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"Nicht von Betrug reden"

Andrea Grunau9. Januar 2014

Die Bundesregierung will prüfen, ob die EU-Zuwanderung neu geregelt werden muss. Michael Löher vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge warnt im DW-Interview vor Übertreibungen und falschen Begriffen.

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Michael Löher, Vorstand des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V.
Bild: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V.

DW: Herr Löher, die Regierung hat einen Ausschuss eingesetzt, der einen möglichen Missbrauch von Sozialleistungen durch EU-Zuwanderer prüfen soll. Die bayerische CSU hatte die Debatte angeheizt mit dem Slogan: "Wer betrügt, der fliegt". Leidet Deutschland unter einem solchen Betrug oder Missbrauch?

Michael Löher: Mir sind keine signifikanten Fälle von Betrug oder Missbrauch bekannt. Es mag Einzelfälle geben, wo Sozialbetrug stattfindet. Das ist aber unabhängig von der Herkunft. Bei der Zuwanderung aus Osteuropa sollte man nicht von Betrug reden. Sondern es handelt sich um Menschen, die das Recht auf Freizügigkeit nutzen, um nach Deutschland zu kommen. Daraus ergeben sich Ansprüche. Über diese ist im Einzelfall zu entscheiden. Aber das hat mit Betrug überhaupt nichts zu tun. Ich halte diesen Begriff für polarisierend und falsch.

Seit 1.1.2014 gilt auch für Rumänen und Bulgaren die volle Freizügigkeit, könnte sich die Lage dadurch verschärfen, wie manche warnen?

Es wird möglicherweise dazu kommen, dass die Zahl der Zuwanderungen steigen wird. Dabei ist aber nicht mit einer hohen Zahl von Fällen zu rechnen. Gemessen an der Einwohnerzahl Deutschlands kann man nicht von einer Massenzuwanderung reden. Wir sprechen von vielleicht 30.000 Personen, die 2012 Hartz IV-Leistungen beantragt haben - und das bei einer Einwohnerzahl Deutschlands von gut 80 Millionen. Man darf nicht verkennen, dass es einige Städte mit verschärften Problemen gibt. Aber auf ganz Deutschland gesehen, halte ich die Debatte für weit überzogen. Wir hatten sie schon beim Eintritt der Freizügigkeit für Polen. All die Alarm-Meldungen haben sich nicht bewahrheitet. Nicht zu vergessen ist, dass ein Großteil der bisher zugewanderten Rumänen und Bulgaren Arbeit gefunden hat.

Worum geht es in den Städten, von denen Sie sprechen?

Es gibt Städte in Ballungsgebieten, wo durch die Häufung von Zugezogenen bestimmte Probleme auftauchen. Darüber muss man reden. Es ergeben sich weniger Probleme beim Bezug von Sozialleistungen als bei einer menschenwürdigen Wohnraumversorgung oder der Gesundheitsversorgung. Das muss man ganz deutlich voneinander trennen.

Wie viele Sozialleistungen gehen überhaupt an rumänische und bulgarische Zuwanderer?

Statistisch gesehen für ganz Deutschland ist das vernachlässigbar. Wir haben z. B. im Bereich von sogenannten Hartz IV-Leistungen im Jahr 2012 bei insgesamt gut sechs Millionen Empfängern nur eine Quote von 0,5 Prozent Beziehern aus Rumänien und Bulgarien gehabt. Das ist verschwindend gering. Selbst bei dem oft genannten Beispiel des Kindergeldbezugs reden wir für Juni 2013 von gut 32.000 Empfängern aus Rumänien und Bulgarien, das sind nur 0,37 Prozent aller Kindergeld-Empfänger in Deutschland. Die meisten Menschen aus Osteuropa, die in Deutschland Kindergeld in Anspruch nehmen, sind polnischer Herkunft, obwohl das in der öffentlichen Debatte häufig anders dargestellt wird.

Welche Regeln gelten für EU-Bürger, um Sozialleistungen zu beziehen?

Wenn man eine Arbeitsleistung erbracht hat, ergeben sich daraus Rechtsansprüche. Man hat sogar in bestimmtem Umfang Ansprüche, wenn man nachweislich arbeitssuchend ist. Da gibt es erste Urteile, die aber nicht unumstritten sind. Das Bundessozialgericht hat dem Europäischen Gerichtshof widersprüchliche Urteile zur Klärung vorgelegt.

EU-Bürger genießen Freizügigkeit, in der politischen Debatte wird aber immer wieder davon gesprochen, diese Freizügigkeit einzuschränken oder zu entziehen, was sagen Sie dazu?

Wir haben innerhalb Europas bestimmte vertragliche Verpflichtungen. Die osteuropäischen Staaten sind vollwertiges Mitglied der Europäischen Union. Zum 1.1.2014 sind Einschränkungen im Bereich der Freizügigkeit weggefallen. Die Entscheidungen über die Aufnahme der Länder Osteuropas in die EU sind im Bewusstsein der Situation dort gefällt worden. Heute gilt Freizügigkeit, dahinter geht kein Weg zurück.

In welchen Fällen könnte oder sollte man Einzelnen die Freizügigkeit entziehen?

Im Freizügigkeitsgesetz ist national geregelt, unter welchen Bedingungen das Recht auf Freizügigkeit für Unionsbürger besteht und wann ein Freizügigkeitsrecht durch die Ausländerbehörde im Einzelfall entzogen werden kann. Anders als in der aktuellen Diskussion teilweise dargestellt, besteht also ein klarer Rechtsrahmen, der entsprechend genutzt werden kann und durch die Behörden auch genutzt wird. Der Rechtsrahmen des Freizügigkeitsgesetzes beruht auf der Freizügigkeitsrichtlinie der EU. Deutschland ist insoweit nicht "frei", in welchen Fällen Freizügigkeitsrechte entzogen werden, sondern an europäische Vorgaben gebunden.

Ihr Verein hat ein Papier zur EU-Zuwanderung aus Südosteuropa erarbeitet, welche Lösungen sollte auch der neue Ausschuss in Berlin anstreben?

Der Ausschuss sollte zur weiteren Versachlichung der Diskussion beitragen, damit sie nur noch auf der Basis von Fakten geführt wird. Die Hauptlösung ist, in den Herkunftsländern Rahmenbedingungen zu schaffen, die Wanderungsbewegungen nicht notwendig machen. Die realen Probleme in Deutschland, etwa bei der Unterbringung oder bei der Finanzierung von Sprachkursen, müssen gelöst werden. Dazu könnte man sehr gut Mittel aus dem Europäischem Sozialfonds einsetzen. Im Übrigen sind insbesondere der Bund und die Länder gefragt.

Es geht auch darum, eine Willkommenskultur zu schaffen. Deutschland hat auch einen Fachkräftebedarf und sollte mit Menschen, die in einer schwierigen Problemlage sind, auch angemessen umgehen. Wenn die zugezogenen Familien nicht sofort unterstützt und begleitet werden, sehe ich soziale Probleme auf uns zukommen.

Michael Löher ist Jurist und Vorstand des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. Im Verein sind Kommunen, die Bundesländer, freie Wohlfahrtsorganisationen, Wissenschaftler und Juristen vertreten. Der Verein versteht sich als Plattform für alle Akteure der Sozialpolitik und hat im Herbst 2013 ein Papier zur Zuwanderung von EU-Bürgern aus Südosteuropa vorgelegt.