Terrorserie entzweit Nigerianer
16. April 2014Eine beispiellose Anschlagserie hat Nigeria erschüttert. Am Mittwochmorgen (16.04.2014) überfielen mutmaßliche islamische Extremisten ein Dorf im nordöstlichen Bundesstaat Borno und töteten 18 Bewohner. Das berichteten Medien unter Berufung auf Sicherheitskreise. Am Tag zuvor waren mehr als 100 Schülerinnen aus einem Internat in Borno entführt worden. Und am selben Tag hatten Unbekannte in der Region einen traditionellen Herrscher und seine Wächter getötet. Erst in der vergangenen Woche soll der Emir von Gwoza wegen der ausufernden Gewalt in seinem Distrikt die Zentralregierung um Hilfe gebeten haben. Am Montagmorgen hatte ein Bombenanschlag auf einen Busbahnhof am Rande der nigerianischen Hauptstadt Abuja mehr als 70 Menschen getötet.
Zu allen Taten bekannte sich zunächst niemand. Nigerias Präsident Goodluck Jonathan beschuldigte allerdings bereits kurz nach der Explosion am Montag die islamistische Gruppe Boko Haram, die seit rund fünf Jahren vor allem den Nordosten von Afrikas bevölkerungsreichstem Land mit Terror überzieht. "Die Angelegenheit mit Boko Haram ist eine ziemlich hässliche Geschichte", sagte Jonathan wenige Stunden nach der Tat am Anschlagsort, "aber wir werden sie überwinden. Boko Haram ist ein vorübergehendes Problem".
Die aktuelle Terrorserie widerlegt Jonathans Zuversicht auf dramatische Weise. Die Anschläge zeigen, wie ohnmächtig der nigerianische Staat gegenüber der wachsenden Gewalt ist. Allein in diesem Jahr kamen bei Anschlägen, die Boko Haram zugeschrieben wurden, 1500 Menschen ums Leben. Als Reaktion auf die zunehmenden Überfälle der Islamisten auf von ihnen als "westlich" empfundene Schulen war in ganz Borno vor wenigen Wochen der Unterricht eingestellt worden. Die am Dienstag entführten Mädchen waren laut der Nachrichtenagentur AP erst kurz zuvor zurückgekehrt, um ihre Abschlussprüfungen abzulegen.
Falsche Soldaten entführen Schulmädchen
Die Entführer gaben sich zunächst als Soldaten aus, die die Schülerinnen vor einem angeblichen Angriff in Sicherheit bringen sollten. Erst als sie in bereitstehende Lkw und Busse gestiegen waren, realisierten die Mädchen, dass sie entführt werden sollten. Einige konnten entkommen, indem sie während der Fahrt von der Ladefläche sprangen. Von den übrigen fehlt bislang jede Spur. Berichten zufolge haben Mitglieder von Boko Haram bereits in der Vergangenheit gezielt Mädchen aus Schulen entführt, um sie zur Arbeit als Dienstmädchen zu zwingen und sexuell zu missbrauchen.
Der Terror in Nigeria hat damit in mehrfacher Hinsicht neue Dimensionen erreicht. "Das Muster der Anschläge hat sich verändert", sagt der Sicherheitsexperte und ehemalige Major der nigerianischen Armee, Yahaya Shinku, der DW. So habe sich die Frequenz der Attacken erhöht und das betroffene Gebiet von den Hochburgen Boko Harams im Nordosten auf die Hauptstadt und weitere Teile Nigerias ausgeweitet.
Die dramatischste Veränderung laut Beobachtern ist jedoch, dass der Terror völlig wahllos geworden sei. "Es ist keinerlei ideologische Linie mehr bei der Auswahl der Terrorziele erkennbar", sagt Hildegard Berendt-Kigozi, die das Büro der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Abuja leitet. Lange hatten sich die Anschläge von Boko Haram hauptsächlich gegen Vertreter des nigerianischen Staates wie Militär, Polizei oder auch gegen Schulen gerichtet. Zentrale Forderung der Gruppe ist ein unabhängiger, an ihrer radikalen Vorstellung vom Islam ausgerichteter Staat in Nordnigeria. Zuletzt aber wurden mehrfach ganze Dörfer im Norden angegriffen und auch muslimische Bewohner willkürlich ermordet.
Verschwörungstheorien
Auch bei dem Anschlag vom Montag auf Berufspendler in Abuja sei kein Motiv erkennbar, "außer Nigeria ganz allgemein destabilisieren zu wollen", sagt Berendt-Kigozi. "Jede Terrorgruppe mit ideologischen Ansprüchen würde sich mit solchen Anschlägen unglaubwürdig machen." Ziel sei offenbar nicht die Durchsetzung konkreter politischer oder religiöser Forderungen, sondern das ganze Land ins Chaos zu stürzen.
Die zwei großen Parteien Nigerias, Jonathans Demokratische Volkspartei (PDP) und die oppositionelle Partei aller nigerianischer Völker (ANPP), werfen sich schon länger gegenseitig vor, den Terror Boko Haram's politisch auszunutzen und sogar zu unterstützen. Der Präsident deutete bereits in der Vergangenheit auf eine Verschwörung hin, die das Ziel habe, seine Chancen auf eine Wiederwahl im kommenden Jahr zu mindern. Im Januar 2014 entließ er die gesamte Armeeführung und den Verteidigungsminister, die er für die ausufernde Gewalt verantwortlich machte.
Zunehmende Polarisierung
Vertreter der Opposition dagegen machen die Regierung für den Terror mitverantwortlich. Dadurch werde die Beteiligung des mehrheitlich muslimischen Nordens an den Wahlen erschwert. Auch Major Yahaya Shinku vermutet einen Zusammenhang zwischen dieser neuen Terrorwelle und der im Februar 2015 anstehenden Präsidentschaftswahl. "Man kann diese Anschläge nicht von der Tatsache trennen, dass wir auf die Wahlen 2015 zugehen", sagt Shinku. Es werde schwer für die Wahlkommission, in den vom Terror betroffenen Gebieten zu arbeiten. "Viele der Angestellten werden nicht bereit sein, ihr Leben aufs Spiel zu setzten, wenn die Wahlkommission und ihre Einrichtungen bedroht sind."
Keine der Theorien, warum Boko Haram diese neue Strategie gewählt habe, oder wer sonst hinter dieser wahllosen Gewalt steckt, konnte jedoch bisher belegt werden. Weder über die Ursachen noch über einen angemessenen Weg zur Bekämpfung des Terrors herrsche Klarheit in Nigeria, sagt KAS-Büroleiterin Berendt-Kigozi. Klar sichtbar seien dagegen die Auswirkungen auf die Gesellschaft. Die Bevölkerung würde mehr und mehr polarisiert, je nachdem zu welcher Gruppe man gehöre. In Nigeria leben je zur Hälfte Christen und Muslime. "Für die einen ist die Sache klar: 'Das sind alles die islamischen Extremisten, das ist alles Boko-Haram!'", so Berendt-Kigozi. Für andere sei das keineswegs so klar. Denn sie glaubten nicht, dass Islamisten ihre eigenen Glaubensbrüder töten würden. "Ich hoffe zwar, dass der Anschlag in Abjua jetzt die Nigerianer eint gegen den Terror, aber ich fürchte, dass sich die Gesellschaft stattdessen weiter polarisiert", sagt Berendt-Kigozi.