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Bergungstod in der Türkei: Wenn die Rettung der Tod ist

15. Februar 2023

Sie haben die Erdbeben in der Türkei oder Syrien überlebt, warten tagelang unter Trümmern auf Hilfe, werden gerettet - und sterben kurz darauf. Was steckt hinter dem Bergungstod?

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Ein deutsches Rettungsteam unter Leitung der nordrhein-westfälischen Hilfsorganisation I.S.A.R. Germany rettet nach dem verheerenden Erdbeben eine Frau aus den Trümmern eines eingestürzten Hauses
Warum stirbt jemand, der so viele Tage unter Trümmern begraben überlebt hat?Bild: I.S.A.R. Germany/dpa/picture alliance

Nach den schweren Erdbeben in Syrien und der Türkei hat Zeynep mehr als 100 Stunden unter den Trümmern eines eingestürzten Hauses verbracht, bevor Rettungskräfte sie endlich befreien konnten. "Der Frau geht es den Umständen entsprechend gut", heißt es in einer Pressemitteilung der Hilfsorganisation I.S.A.R. Germany (International Search And Rescue), die an der Bergung beteiligt war.

Kurze Zeit später jedoch stirbt Zeynep. "Auf dem Weg ins Krankenhaus hat sie noch gelacht", sagt der Notfallmediziner Bastian Herbst, einer der Ärzte von I.S.A.R., der geholfen hat, Zeynep aus den Trümmern zu befreien und ins Krankenhaus zu bringen. 

Es könne 120.000 Gründe haben, warum die Frau gestorben sei, sagt Herbst. Innere Verletzungen beispielsweise, die erst später diagnostiziert werden. Vielleicht ist Zeynep aber auch den sogenannten Bergungstod gestorben.

Tod durch kaltes Blut

"Der Bergungstod hat verschiedene Ursachen", erklärt Herbst. Eine davon ist die Unterkühlung. Die eisigen Temperaturen im Erdbebengebiet führen dazu, dass sich die Blutgefäße der Verschütteten verengen. So stellt der Organismus sicher, dass so wenig kostbare Körperwärme wie möglich über die Haut oder die Extremitäten an die Umgebung verloren geht. Die Temperatur des Blutes sinkt in diesen Teilen des Körpers ab, während das warme Blut im Körperkern die Funktion der lebenswichtigen Organe sicherstellt.

Zeyneps Bergung sei kompliziert gewesen. "Wir mussten sie viel bewegen, um sie befreien zu können", sagt Herbst. Dabei kann es passieren, dass sich die Blutgefäße weiten und kaltes Blut in den Körperkern fließt, erklärt der Notfallmediziner. Herzrhythmusstörungen könnten die Folge sein und zum Tod führen. 

Nierenschäden und Kammerflimmern

"Ihre Beine waren unter Steinen und Schutt begraben", erzählt Herbst über Zeyneps Lage. Sie habe zwar ihre Füße bewegen können, dennoch sei es gut möglich, dass Gewebe ihrer Beine durch das Geröll geschädigt wurden. Bei Muskelverletzungen setzt der Körper Myoglobin frei - ein Protein, das für den Sauerstofftransport innerhalb der Muskelzellen zuständig ist.

Werden die Verschütteten befreit, kann das Blut plötzlich wieder ungehindert fließen und den Körper mit Myoglobin fluten. "Das macht die Nieren kaputt", sagt Herbst. Nierenversagen und eine damit einhergehender steigender Kalium-Spiegel können die Folge sein. Zu viel Kalium im Körper kann wiederum zu Kammerflimmern führen. Besonders gefährlich ist das für Menschen mit Herz-Vorerkrankungen.

Nachlassender Stress führt zum Tod

"Wir kennen das von Schiffbrüchigen: In dem Moment, in dem sie das Rettungsteam sehen, können sie nicht mehr und ertrinken", erzählt Herbst. Stresshormone sorgen dafür, dass die Organfunktionen aufrechterhalten bleiben, so Herbst. Lässt der Stress nach der Rettung nach, könne es zum Zusammenbruch des Kreislaufs kommen.

Zeynep hat ihren Mann und ihre Kinder durch das Erdbeben verloren. "Vielleicht ist ihr das bewusst geworden und hat ihr den Lebenswillen geraubt", sagt Bastian Herbst. "Wir wissen es nicht."

Julia Vergin
Julia Vergin Teamleiterin in der Wissenschaftsredaktion mit besonderem Interesse für Psychologie und Gesundheit.