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Berlin, Berlin, wir ziehen nach Berlin!

20. Juni 2021

Am 20. Juni 1991 votierte der Bundestag in Bonn für die Rückkehr von Regierung und Parlament nach Berlin. Eine Entscheidung, die am seidenen Faden hing.

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Deutschland Berlin wird Regierungssitz
Jugendliche vor dem Brandenburger Tor in Berlin; das Ergebnis wurde später offiziell in 338:320 korrigiert Bild: Andreas Altwein/dpa/picture alliance

Sommer 1991: Deutschland ist seit acht Monaten wiedervereinigt – nach 45 Jahren Teilung. Die kommunistische DDR hat ausgedient. Ihr Gebiet und die dort lebenden Menschen gehören nun zur demokratischen Bundesrepublik. Die wird seit 1949 aus Bonn am Rhein regiert. Tief im Westen gelegen, gut 100 Kilometer bis zur Grenze zu den Niederlanden. Nach Brüssel, der Hauptstadt Europas, sind es gerade einmal 230 Kilometer, auch Paris ist nur einen Katzensprung entfernt.

Frankreich im Westen, Österreich im Süden oder Dänemark im Norden sind den meisten Westdeutschen nicht nur geografisch näher als der hinzugekommene Landesteil östlich der Elbe. Jahrzehnte der politisch-ideologischen Trennung haben ihre Spuren hinterlassen.

In dieser Gemengelage müssen 660 Abgeordnete des Deutschen Bundestages am 20. Juni 1991 eine Entscheidung von historischer Tragweite treffen: Sollen Parlament und Regierung in Bonn bleiben oder nach Berlin umziehen? Also in jene Stadt, die seit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 bis 1945 Hauptstadt war.  

Bonn sollte nur ein Provisorium sein

Ein geschichtlich schwer belasteter Ort, von dem zwei Weltkriege ausgingen. Danach eine in Ost und West zerrissene Metropole im Ruhestand, durch die seit 1961 eine Mauer aus Beton und Stacheldraht verlief. Und dieses schwer gezeichnete Berlin soll wieder politisches Zentrum des größer und mächtiger gewordenen Deutschlands werden?

Konstituierende Sitzung des Bundestages am 7. September 1949 in Bonn
Konstituierende Sitzung des Bundestages am 7. September 1949 in Bonn; die letzte fand dort 1999 statt Bild: picture-alliance /akg

Als die Bundesrepublik gegründet wird, gibt es daran überhaupt keinen Zweifel. Die Männer und Frauen des ersten Deutsche Bundestags betrachten Bonn lediglich als "vorläufigen Sitz". In diesem Geiste beschließen sie 1949 unmissverständlich:

"Die leitenden Bundesorgane verlegen ihren Sitz in die Hauptstadt Deutschlands, Berlin, sobald allgemeine, freie, gleiche, geheime und direkte Wahlen in ganz Berlin und in der Sowjetischen Besatzungszone durchgeführt sind. Der Bundestag versammelt sich alsdann in Berlin."

Vier Tage vor der Abstimmung spricht alles gegen Berlin

Zu diesem Zeitpunkt, wenige Jahre nach Kriegsende, ist die Hoffnung auf eine schnelle deutsche Wiedervereinigung noch groß. Dass es über vier Jahrzehnte dauern würde, ahnt wohl niemand. In der Zwischenzeit entfremden sich die Deutschen immer mehr.

Deshalb ist ein Umzug nach Berlin keine Selbstverständlichkeit. In Artikel 2 des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 steht deshalb: "Hauptstadt Deutschlands ist Berlin. Die Frage des Sitzes von Parlament und Regierung wird nach der Herstellung der Einheit Deutschlands entschieden."  

Einigungsvertrag
Im Vertrag über die Deutsche Einheit wird die Frage nach dem Sitz von Regierung und Parlament offen gelassenBild: picture-alliance/dpa/W. Kumm

Kein Jahr später schlägt die Stunde der Wahrheit – und alles spricht für Bonn. Vier Tage vor der entscheidenden Abstimmung ergibt eine Umfrage unter den Abgeordneten ein klares Bild: nur 267 sind für Berlin, aber 343 für Bonn. Doch als es am 20. Juni 1991 nach elf Stunden Debatte zum Schwur kommt, liegt Berlin völlig unerwartet vorn: 338:320. Wie ist dieser Stimmungsumschwung zu erklären? Ein Name fällt dabei immer wieder: Wolfgang Schäuble.   

Willy Brandt bedankt sich persönlich bei Wolfgang Schäuble

Der heutige Bundestagspräsident, damals 48 Jahre alt, beschwört wie niemand sonst die wechselvolle Geschichte der alten und neuen Hauptstadt. Er erinnert an die Luftbrücke der westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, als Stalins Sowjetunion 1948/49 den freien Teil Berlins blockierte.

Wolfgang Schäuble während seiner Rede im Bonner Bundestag am 20.06.1991
Wolfgang Schäuble, der nach einem Attentat im Rollstuhl sitzt, während seiner historischen Rede pro BerlinBild: Michael Jung/dpa/picture alliance

Schäuble lässt kein historisches Ereignis unerwähnt: DDR-Volksaufstand am 17. Juni 1953, Bau der Berliner Mauer im August 1961, Mauerfall am 9. November 1989 und schließlich die Deutsche Einheit am 3. Oktober 1990. Der Christdemokrat betont: "Das Symbol für Einheit und Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für das ganze Deutschland war wie keine andere Stadt immer Berlin."

Diese Solidarität der freien Welt mit der Einheit und Freiheit der Deutschen habe sich nirgends stärker als in Berlin ausgedrückt, sagt Schäuble und fügt hinzu: "Ob wir wirklich ohne Berlin heute wiedervereinigt wären? Ich glaube es nicht."

Viele Abgeordnete erheben sich nach Wolfgang Schäubles Rede von ihren Sitzen und applaudieren stehend
Standing Ovations am 20.Juni 1991 im Bonner Bundestag für die Rede von Wolfgang SchäubleBild: Michael Jung/dpa/picture alliance

Hunderte Abgeordnete erheben sich nach seiner Rede von ihren Sitzen und applaudieren minutenlang. Der frühere Bundeskanzler Willy Brandt, Friedensnobelpreisträger und ehemaliger Regierender Bürgermeister in West-Berlin, bedankt sich bei Schäuble per Handschlag persönlich.

Bundeskanzler Helmut Kohl ist für Berlin

"Die Debatte war eine der wirklichen Sternstunden des Deutschen Bundestages", sagt Alexander Kudascheff, der damals Chefkorrespondent der Deutschen Welle war. Er ist ein langjähriger Kenner und Beobachter der politischen Szene in Bonn, war dann viele Jahre in Brüssel und zuletzt bis zu seiner Pensionierung 2017 Chefredakteur in Berlin.

Alexander Kudascheff
"In der politischen Großstadt Berlin gibt es noch viel Provinzialität ohne den Charme der Provinz" - Alexander Kudascheff

"Wahre Redeschlachten" habe es gegeben, "nur auf die Autorität des Arguments vertrauend". Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), die großen Sozialdemokraten Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel – sie alle unterstützen Berlin.

"Die Stimmung schien aber in eine andere Richtung zu gehen", erinnert sich Kudascheff an die dramatischen Stunden. "Plötzlich wirkten die großen alten Männer der Politik als Männer von gestern." Aber Wolfgang Schäuble habe die Debatte gedreht. "Im Rollstuhl. Mit Leidenschaft. Historischem Atem. Glanzvoller Rhetorik. Man spürte es während der Rede: Das ist ein historischer Moment."

Ex-Minister Baum: großspurige Bauten und aufgeregte Medien

Direkt danach spricht der Freidemokrat und ehemalige deutsche Innenminister Gerhart Baum. Geboren in Dresden (also im Osten), aufgewachsen und politisch sozialisiert im Rheinland (also im Westen). Ausdrücklich stimmt er Schäuble zu: Berlin sei in besonderer Weise ein Symbol für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit.

"Aber ist nicht auch Bonn ein Symbol für 40 Jahre erfolgreiche Demokratie, die das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland in der Welt begründet hat, ihre europäische Integration vollzogen und schließlich auch die Chance der deutschen Einheit offen gehalten hat?"

Baums Werben für Bonn bleibt erfolglos. Seine Skepsis gegenüber Berlin hat er aber auch 30 Jahre später nicht verloren: "Ich bin immer noch der Meinung, dass die Abkehr von einer Hauptstadt alter Prägung und die Bekräftigung eines pluralistisch verfassten Staates mit verschiedenen Zentren eine praktikable Alternative gewesen wäre", teilt der inzwischen 88-Jährige auf DW-Anfrage mit.

Kanzleramt an der Spree in Berlin
Alles eine Nummer größer als in Bonn: das Kanzleramt an der Spree in Berlin Bild: picture alliance/Wolfram Steinberg

"Das politische Klima in Bonn hat der Republik gut getan." Es habe aber auch kräftige Argument für Berlin gegeben. Eine Stadt, deren Bauten Baum "zu großspurig" erscheinen und die mit ihrer Medienlandschaft "zu aufgeregt daherkommt". 

Viele enttäuschte Hoffnungen

Ähnlich wie der Politiker Baum sieht es der Journalist Kudascheff. "Die Berliner Republik ist eine politische und mediale Blase." Sie sei entrückt von den Menschen, ihren Problemen und dem Land. Und in ihrem Zentrum "hysterisch, notorisch aufgeregt, schlagzeilenversessen, indiskret".

Enttäuschte Hoffnungen verbindet auch Dagmar Enkelmann mit dem Wechsel von Bonn nach Berlin. Sie ist bei der Abstimmung 1991 eine von 18 Abgeordneten der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), die mit der Linken Liste eine Fraktion bildet.

Dagmar Enkelmann | Vorstandsvorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Hat sich vom Umzug von Bonn nach Berlin mehr erhofft - Dagmar EnkelmannBild: Bodo Schackow/dpa/picture alliance

Hervorgegangen aus der DDR-Staatspartei SED ist die PDS im Bonner Bundestag das sichtbarste Zeichen dafür, dass Deutschland in vielerlei Hinsicht östlicher geworden ist. "Unsere Hoffnung war, dass mit dem Umzug das Verständnis für die Lebensleistung der Menschen in den neuen Bundesländern wächst und die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West schneller vorangetrieben wird", sagt Dagmar Enkelmann auf DW-Anfrage.

Umzug war ein "symbolischer Akt"

"Das hat sich nicht erfüllt", bedauert die heutige Vorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Der nach dem Berlin-Votum vom 20. Juni 1991 erst zur Jahrtausendwende vollzogene Umzug sei vor allem ein "symbolischer Akt" gewesen. Dass 30 Jahre nach dieser historischen Entscheidung sechs Bundesministerien ihren ersten Dienstsitz noch immer in Bonn haben und andere Zweigstellen, hält sie für falsch.

Die Verwaltung sei aufgebläht worden, es gebe keine Kosten-Ersparnis. Dagmar Enkelmanns Fazit: Die neuen Bundesländer seien für manche in der Regierung auch heute noch der "ferne Osten", der die "Errungenschaften der Einheit" nicht zu schätzen wisse.

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland