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Alle Flaschen stehen still …

Tillmann Bendikowski10. September 2013

Wir stellen jede Woche ein Bild vor und erzählen seine Geschichte. Diesmal gehen wir zurück in das Jahr 1955: Die Gewerkschaften beginnen einen "Milch-Streik"

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Mülheimer Milchstreik 1955 (Foto: Ullstein)
Bild: ullstein

"Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will!" Mit diesem Schlachtruf hat die deutsche Arbeiterbewegung so manchen Kampf erfolgreich bestanden – für gerechte Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, für eine soziale Gesellschaft. Dieses Foto aus dem Jahr 1955 dokumentiert, dass sich die deutschen Gewerkschaften auch immer wieder für Lebensmittelpreise zuständig fühlten: In Mühlheim rufen sie am 19. September 1955 zum "Milch-Streik" auf, um damit gegen eine Erhöhung der Milch-Preise zu demonstrieren. Die Arbeiter auf dieser Baustelle folgen dem Aufruf und prosten den angereisten Fotografen demonstrativ mit Ersatz-Getränken zu.

Es geht um 5 Pfennig. Um diese Summe nämlich soll der Preis für einen Liter Milch im Oktober 1955 steigen. Dafür hat sich die Landwirtschaftslobby stark gemacht. Die Landwirtschaftsminister der Länder und Bundesernährungsminister Heinrich Lübke halten diesen Schritt für richtig, um den Milchbauern angesichts steigender Erzeugerpreise unter die Arme zu greifen. Doch die Gewerkschaften bezweifeln, dass von dem Geld viel bei den Bauern ankommt. Schon in den vergangenen Jahren hätten Preiserhöhungen in erster Linie die Kassen der Molkereien gefüllt. Weitere Steigerungen seien deshalb nicht hinzunehmen.

Der Milch-Verzicht der Mühlheimer Arbeiter in 36 gewerkschaftlich gut organisierten Betrieben hat beträchtliche Folgen: Am Abend des ersten Boykott-Tages sind 8.000 Liter Kantinenmilch sauer geworden. Schon am zweiten Streiktag beklagen sich rund 100 Mühlheimer Kleinhändler bei der Gewerkschaft über ausbleibende Einnahmen. Doch der Protest weitet sich aus: In Oberhausen, Krefeld, Düsseldorf und vielen anderen Industriestädten schließen sich Gewerkschaften dem „Milch-Streik“ an. Jetzt sieht sich die Bundesregierung unter Zugzwang, Gewerkschaften und Landwirtschaftsvertreter gleichermaßen gerecht zu werden.

Das Ergebnis ist 1955 – und wie in den Folgejahren immer wieder einmal – der Griff in das Staatssäckel: Der Bundesfinanzminister stellt schweren Herzens 43 Millionen Mark als Subventionsfond zu Verfügung. Heute streikt kein Betrieb mehr gegen Milchpreise - sie sind noch immer subventioniert und extrem niedrig. Und selbst wenn gestreikt würde, könnte es kaum mehr zu den Folgen von 1955 kommen. Die Kühlkette funktioniert in Zeiten der europaweiten Massenproduktion von Milchprodukten einwandfrei. Und doch, eine andere Form des Konsumentenprotests wird immer präsenter: der Griff zur Soja- statt zur Kuhmilch. Prost!