Blaues Auge statt Wirtschaftskrise?
16. November 2022Energiekrise, Rekordinflation, Lieferengpässe: Die deutsche Wirtschaft steuert auf ein außergewöhnlich schwieriges Winterhalbjahr zu. Die Bundesbank etwa geht davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt im laufenden vierten dieses Jahres und im folgenden ersten Quartal 2023 "deutlich" schrumpfen wird.
Allerdings mehren sich die Hinweise darauf, dass eine milde Rezession herauskommen könnte und nicht der befürchtete schwere Konjunktureinbruch. Aber was spricht eigentlich dafür, dass Europas größte Volkswirtschaft mit einem blauen Auge davonkommen könnte?
Mit vollen Speichern durch einen milden Winrter
Die außergewöhnlich Witterung im Herbst lässt ein "Worst Case"-Szenario unwahrscheinlicher werden, nämlich dass wegen ausbleibender russischer Lieferungen Gas rationiert und Betriebe zwangsweise geschlossen werden müssen. Der Deutsche Wetterdienst (DWD) erwartet zudem "einen eher milden Winter" in Deutschland. Der wiederum "könnte uns dabei helfen, die notwendigen Einsparungen von mindestens 20 Prozent beim Gasverbrauch auch in den kommenden Monaten durchzuhalten", sagt der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller.
Hinzu kommt, dass die Gasspeicher randvoll sind: Der Füllstand liegt inzwischen bei 100 Prozent. Auch wurde in Wilhelmshaven der bundesweit erste Anleger für die Ankunft von Flüssigerdgas fertiggestellt - für Wirtschaftsminister Robert Habeck "ein zentraler Baustein für die Sicherung unserer Energieversorgung im kommenden Winter".
Volle Speicher und milde Witterung zusammen hätten "die Gefahr einer Gasmangellage mit Rationierungserfordernissen für diesen Winter deutlich reduziert", fasst NordLB-Chefvolkswirt Christian Lips zusammen.
Volle Auftragsbücher
Die deutsche Industrie hat zuletzt zwar einen Einbruch im Neugeschäft erlitten. Das ändert aber nichts daran, dass ihre Auftragsbücher so dick sind wie noch nie. Die Reichweite des Auftragsbestands beträgt acht Monate - sie gibt an, wie viele Monate die Betriebe bei gleichbleibendem Umsatz ohne neue Bestellungen theoretisch produzieren müssten, um die vorhandenen Aufträge abzuarbeiten.
"Neben hohen Energiekosten für die Industriebetriebe führt die anhaltende Knappheit an Vorprodukten nach wie vor zu Problemen beim Abarbeiten der Aufträge", erklärt das Statistische Bundesamt das Zustandekommen des komfortablen Polsters, auf das die Unternehmen bei weiterhin ausbleibendem Neugeschäft zurückgreifen könnten. Das könnte die Produktion stabilisieren.
Konsolidierte Lieferketten
Zwar leiden dem Ifo-Institut zufolge immer noch knapp zwei Drittel der Industriebetriebe unter Lieferengpässen. Im Sommer waren es aber zeitweise fast vier Fünftel. In wichtigen Branchen wie bei den Autobauern ließ der Materialmangel zuletzt nach.
"Die Tiefe der Rezession kann im besten Fall auch dadurch begrenzt werden, dass im Verarbeitenden Sektor bei weiter nachlassenden Lieferengpässen der hohe Auftragsbestand der Vorquartale produktionswirksam abgearbeitet wird", hofft deshalb Ökonom Thomas Theobald vom gewerkschaftsnahen Institut IMK.
Wo der Staat hilft
Im Winter kommt der sogenannte "Doppel-Wumms", wie Bundeskanzler Olaf Scholz die staatlichen Hilfsprogramme bezeichnet hat. So wird die Energiepreispauschale von 300 Euro - die Erwerbstätige bereits im September erhalten haben – im Dezember an Menschen im Ruhestand und andere zuvor ausgelassene Gruppen gezahlt. Das gilt auch für Kinderbonus und Kindersofortzuschlag.
Die Übernahme der Abschlagszahlung auf Erdgas im Rahmen der Gaspreisbremse dürfte im Dezember die Inflationsrate unter die Zehn-Prozent-Marke drücken. Aktuell ist sie mit 10,4 Prozent so hoch wie seit 1951 nicht mehr.
Spätestens im März 2023 soll die zweite Stufe der Gaspreisbremse Inkrafttreten. Dadurch wird der Preis für ein Grundkontingent der Privathaushalte von 80 Prozent des geschätzten Verbrauchs auf zwölf Cent heruntersubventioniert. Zweistellige Inflationsraten dürften dann der Vergangenheit angehören, erwartet etwa IMK-Direktor Sebastian Dullien. Das alles könnte die privaten Konsum stützen und damit die Konjunktur insgesamt.
Erfreulicher Binnenkonsum
Die Konsumenten sorgten mit ihren Mehrausgaben schon im Sommer dafür, dass die deutsche Wirtschaft um 0,3 Prozent wachsen konnte - trotz der Belastung durch die hohe Inflation. Ein Grund dafür dürften die während der Corona-Pandemie angehäuften 200 Milliarden Euro an Zusatzersparnis sein, ein weiterer der sehr stabile Arbeitsmarkt. "Die Kaufkraft ist vorhanden, Löhne und Gehälter werden gezahlt", sagt der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Deutschland (HDE), Stefan Genth.
"Die hohe Inflation und die schlechte Verbraucherstimmung senden eigentlich keine guten Vorzeichen für das Weihnachtsgeschäft. Die Kundinnen und Kunden sind aber trotz allem entschlossen, in Geschenke zu investieren." Das könnte die Rezession ebenfalls mildern.
Indizes weisen nach oben
Auch erste Konjunkturindikatoren deuten darauf hin, dass die Gefahr einer schweren Rezession abgenommen hat. Das Barometer des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) weist für November bis Ende Januar 2023 ein Rezessionsrisiko von 65,3 Prozent aus. Anfang Oktober betrug es noch 80,8 Prozent.
Das Barometer für die Einschätzung der Börsianer zur deutschen Konjunktur in den nächsten sechs Monaten wiederum sprang im November um unerwartet starke 22,5 Zähler nach oben, wie das Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) herausfand.
"Kurzum: Rezession ja, aber vermutlich weniger scharf und lang als noch vor wenigen Wochen zu befürchten war", fasst VP-Bank-Chefvolkswirt Thomas Gitzel die Umfrage zusammen.