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Bolsonaro - schuld an 120.000 Corona-Toten?

Jean-Philip Struck
21. Oktober 2021

In Brasilien hat ein Untersuchungsausschuss den Umgang der Regierung mit COVID-19 geprüft. Der Abschlussbericht wirft Präsident Jair Bolsonaro eine Reihe von Straftaten vor, darunter Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

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Bildergalerie 500.000 Corona-Tote in Brasilien
Ein Massengrab in Manaus, Amazonas, im Mai 2020Bild: Michael Dantas/AFP/Getty Images

Fast sechs Monate lang hat sich die Parlamentarische Untersuchungskommission unter Leitung von Senator Omar Aziz Zeit genommen, um den Umgang der brasilianischen Regierung mit der COVID-19-Pandemie zu dokumentieren und auszuwerten. Nun hat der Hauptautor, Senator Renan Calheiros, den Abschlussbericht vorgelegt und gefordert, Klage gegen Präsident Jair Bolsonaro zu erheben.

In dem knapp 1200-seitigen Dossier bezeichnet die Kommission das Verhalten der Regierung als fahrlässig, inkompetent, unwissenschaftlich, korrupt, chaotisch und kriminell. Es sei entscheidend dafür gewesen, dass Brasilien in ein gesundheitliches Desaster geraten sei, das nach offiziellen Zahlen mehr als 600.000 Menschenleben gekostet hat. Für mindestens 120.000 der Todesopfer macht der Ausschuss die Regierung mit ihrer "makabren Strategie" direkt verantwortlich.

Malariamittel und nicht-existente Vakzine

Die Regierung habe die Gefahr der Krankheit konstant kleingeredet und Maßnahmen boykottiert, die die Ausbreitung hätten verlangsamen können. Statt sich um die Beschaffung von Impfstoffen zu kümmern, habe sie diese sogar vorsätzlich hinausgezögert und unwirksame Medikamente empfohlen.

Vor dem Brandenburger Tor halten drei Frauen Plakate: "Vergewaltigte Heimat", "In Brasilien findet ein Völkermord statt"
Proteste gegen Jair Bolsonaro Anfang Oktober in BerlinBild: Cristiane Ramalho/DW

Unter anderem hatte Bolsonaro das Malariamittel Hydroxychloroquin zur Behandlung beworben, das bei einer COVID-19-Erkrankung laut wissenschaftlichen Studien im besten Falle wirkungslos ist. Und während der Präsident Angebote großer Impfstoffhersteller ablehnte, öffnete sich sein Gesundheitsministerium für Scheinfirmen, die Impfstoffe anboten, die überhaupt nicht existierten. Es sei ein regelrechter "Korruptionsbasar" entstanden, sagte Calheiros.

Konzertierte Desinformation

Flankiert habe die Regierung ihre Politik mit einem Informationsnetzwerk zur Verbreitung von Fake News, dessen Zentrum Bolsonaro selbst sowie seine drei Söhne - der eine ist Senator, der zweite Abgeordneter und der dritte Mitglied im Stadtrat von Rio de Janeiro - gewesen seien.

Mit ihren Aufrufen, ohne Verweis auf Hygienemaßnahmen an Versammlungen teilzunehmen, sich nicht impfen zu lassen und gegen bundesstaatliche Lockdown-Auflagen und Maskenpflichten zu verstoßen, hätten Regierungspolitiker zur Ausbreitung der Pandemie beigetragen. Die Autoren schreiben, sie seien zu dem Schluss gekommen, dass "der Präsident ein Interesse daran hatte, die Brasilianer zu ermutigen, sich schutzlos einer Infektion auszusetzen".

Zahlreiche Verbrechen - auch gegen die Menschlichkeit

Mit ihrem Verhalten habe die Regierung "die Bevölkerung vorsätzlich dem Risiko einer Masseninfektion" ausgesetzt, um Herdenimmunität durch natürliche Durchseuchung zu erreichen. "Diese Strategie zielte ausschließlich auf die Wiederaufnahme wirtschaftlicher Aktivität ab", sagte Senator Calheiros. Dafür, heißt es in dem Bericht, habe Bolsonaro den Tod tausender Menschen billigend in Kauf genommen.

Brasilien Frauenministerin Damares Alves in einer Menschenmenge
Bolsonaros Familienministerin Dmares Alves mit Anhängern - natürlich ohne MaskeBild: Eraldo Peres/AP/picture alliance

Zu den neun Straftaten, die man Bolsonaro vorwirft, gehören Betrug, Anstiftung zu einer Straftat und Dokumentenfälschung. Im Zusammenhang mit dem Mangel an medizinischem Sauerstoff in der Amazonas-Metropole Manaus legt der Ausschuss dem Präsidenten Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last. Mehrere hundert Menschen sind dort verstorben, die mit genügend Sauerstoffgaben vermutlich hätten überleben können.

Mehr als 60 Personen beschuldigt

Insgesamt enthält das Dokument strafrechtlich relevante Vorwürfe gegen 66 Personen und zwei Unternehmen, darunter die drei Söhne Bolsonaros, sieben aktuelle und ehemalige Minister sowie mehrere Abgeordnete. So werden etwa mehrere Unternehmer beschuldigt, Bolsonaros Desinformationskampagne unterstützt zu haben, mehreren Ärzten wird Betrug und unethisches Verhalten vorgeworfen.

Jair Bolsonaro gestikuliert vor einer brasilianischen Flagge
Präsident Bolsonar dürfte der Bericht eher kalt lassen: Die Vorwürfe sind nicht neu - weder für ihn noch für seine AnhängerBild: Mateus Bonomi/AA/picture alliance

Juristische Kompetenzen hat eine parlamentarische Untersuchungskommission in Brasilien allerdings nicht. Sollte der zuständige Ausschuss den Bericht kommende Woche in der vorliegenden Form beschließen, könnten Strafverfolgungsbehörden diesen aber für eine Anklage nutzen. Allerdings gilt das als eher unwahrscheinlich, der Leiter der zuständigen Staatsanwaltschaft ist Bolsonaro gewogen. Zumindest solange er Präsident ist, dürfte Bolsonaro also kaum vor Gericht gestellt werden.

Politische Konsequenzen

Dennoch räumen Beobachter dem Bericht einige Bedeutung auf politischer Ebene ein: Er gibt der Opposition ein ganzes Dossier an die Hand, um Bolsonaro bei der Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr zu diskreditieren.

Präsident Bolsonaro hat sich bisher nicht zu den Vorwürfen geäußert. Sein Sohn Flavio sagte der Presse, sein Vater könne nur darüber gelacht haben: "Es ist ein Witz, und zwar ein ziemlich geschmackloser, den Senator Calheiros da macht."

 

Aus dem Portugiesischen adaptiert von Jan D. Walter.