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Boris Akunin: "Revolution in Russland unvermeidlich"

Vladimir Esipov
13. September 2022

Gegen Putin und den Ukraine-Krieg: der populäre russische Schriftsteller Boris Akunin zeigt klare Kante. Beim Internationalen Literaturfestival Berlin fordert er, die russische Gesellschaft nicht aufzugeben.

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Porträt von Boris Akunin beim 22. Literaturfestival in Berlin.
Boris Akunin beim 22. Internationalen Literaturfestival in BerlinBild: Vladimir Esipov/DW

Die Tickets für die Diskussion mit den Schriftstellern Boris Akunin und Sergej Lebedew, der in Potsdam lebt, waren Tage im Voraus ausverkauft. Die Begegnung fand im Rahmen des 22. Internationalen Literaturfestivals Berlin statt. Doch über Literatur wurde bei der Veranstaltung mit dem Titel "Russland: Toxic Homeland" nur etwa eine Stunde lang diskutiert. Danach sprachen Akunin und Lebedew über den Begriff "Heimatland", die Spaltung der russischen Gesellschaft und die Rolle der Bevölkerung in der Politik.

Boris Akunin wurde 1956 in Zestafoni, heute Georgien, als Grigori Tschchartischwili geboren. Seit 1998 publiziert er unter seinem Pseudonym historische Kriminalromane, die ihn rasch zu einem der meistgelesenen Autoren in Russland machten. Seine Bücher wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Als Reaktion auf den vom Putin-Regime entfesselten Krieg gegen die Ukraine gründete der Philologe, Kritiker, Essayist und Übersetzer mit dem Schauspieler Mikhail Baryshnikov und dem Ökonomen Sergej Gurijew 2022 den Verein "True Russia" (Wahres Russland), der Kriegsopfern hilft und für Demokratie in Russland eintritt. Heute lebt Akunin in London.

"Aggressives diktatorisches Regime"

In Berlin kritisierte Akunin im Zusammenhang mit der Abschaffung von Visaerleichterungen zwischen der EU und der Russischen Föderation westliche Politiker, die die russische Führung mit den Bürgern des Landes gleichsetzen wollten. "Russland hat der Welt viel Übel gebracht, aber auch viel Gutes. Ich will die guten Dinge, die Russland hervorgebracht hat, nicht aufgeben. Ich will sie nicht Wladimir Putin überlassen. Für uns ist es unerträglich, dass Putin Russland verkörpert", so der Schriftsteller.

Boris Akunin und Sergej Lebedew sitzen mit einem dritten Mann auf einem Podium.
Boris Akunin (l.) und Sergej Lebedew (r.) beim Internationalen Literaturfestival BerlinBild: Vladimir Esipov/DW

Seiner Meinung nach ist die übermäßige Zentralisierung, der Imperialismus und die Tatsache, dass das riesige Land immer nur mit Gewalt zusammengehalten wurde, das Hauptproblem des russischen Staates. "In der Geschichte begann der Staat immer dann zu zerfallen, wenn das System der Gewalt schwächelte", glaubt Akunin. Sollte Russland die Grundlagen seiner Existenz nicht ändern und nicht zu einer echten Föderation werden, dann würde es zu einer weiteren pro-demokratischen Revolution kommen. Dem würde aber ein Abgleiten in den Autoritarismus folgen.

Akunin ist überzeugt, dass der Krieg gegen die Ukraine die ganze Welt bedroht. "Das ist nicht mit der irakischen Invasion in Kuwait vergleichbar. Wir haben es mit einem aggressiven diktatorischen Regime zu tun, das über Atomwaffen verfügt und wiederholt gedroht hat, sie einzusetzen. Solange dieses Regime Russland regiert, wird es keinen Frieden geben. Unsere Aufgabe ist es, diesem Regime ein Ende zu bereiten", so der Autor.

Boris Akunin verließ Russland 2014 wegen der Annexion der Krim. Im Gespräch mit der DW versicherte er, er werde zurückkehren, "sobald Russland die Diktatur los ist". Doch dies sei nur mit einer Revolution zu erreichen, und die müsse von den russischen Bürgern ausgehen. Sanktionen gegen die Bevölkerung würden zu keinem Kollaps des Regimes führen, sondern Putins Position nur stärken. Deshalb sollten westliche Politiker klarmachen, dass sie Gegner des Regimes, aber gleichzeitig Freunde des russischen Volkes seien. "Der Westen darf die Russen nicht von sich absondern, sondern er muss sie von Putin absondern", so Akunin. Dafür bekam er in Berlin Applaus. Er fügte hinzu: "Ja, derzeit gibt es keine Revolutionsstimmung in Russland. Aber eine Revolution ist unvermeidlich. Die Frage ist nur, wann sie passiert und wie viele Menschenleben bis dahin geopfert werden."

"Es ist eine Schande, gleichgültig zu sein"

Im Gespräch mit der DW beim Literaturfestival erzählte Akunin, er habe sich am 24. Februar 2022, als der russische Angriff begann, "in einer anderen Realität'' wiedergefunden. Die "andere Realität" sei für die Ukrainer aber viel tragischer. "Wir alle, auch die, die vom Krieg weit weg sind, sollten ihr Leben überdenken", so Akunin. Denn es sei eine Schande und unmoralisch, sich aus dem Geschehen herauszuhalten, gleichgültig zu sein, sich gar vor diesem Problem zu verstecken. "Dieses Problem ist in unser Leben getreten. Für die Ukrainer ist es eine Tragödie, aber ihnen ist ihre Position klar, denn sie verteidigen ihre Heimat. Bei den Russen ist es viel komplizierter. Die russische Gesellschaft erfährt eine kolossale Spaltung. Es gibt viele Menschen, die auf der Seite des Putin-Staates sind. Es gibt aber auch viele, die gegen ihn sind, und ich bin natürlich einer von ihnen."

Boris Akunin im Gespräch mit einer Frau. Er hat eine rote Rose in der Hand.
Boris Akunin spricht mit seinen Leserinnen und Lesern beim Literaturfestival in BerlinBild: Vladimir Esipov/DW

Aber wie soll es weitergehen? Auf diese ewige russische Frage sagte Akunin: "Erstens darf man nicht den Mut verlieren. Zweitens muss man kleinliche Differenzen vergessen und sich zusammentun. Drittens muss man mit den Menschen in Russland sprechen, sie überzeugen, ihnen Informationen geben. Man darf sie nicht beschimpfen, sondern muss mit ihnen eine gemeinsame Sprache finden. Denn wie Russland morgen aussehen wird, hängt vor allem von den Menschen ab, die heute im heutigen Russland leben."

Was das Verbot russischer Literatur in der Ukraine angeht, sagte Akunin: "Ich denke, dass es völlig nachvollziehbar ist, dass die Ukrainer alles satt haben, was mit Russland und dem 'Russentum' zu tun hat. Mir tun besonders ukrainische Schriftsteller und Dichter leid, die talentiert sind und deren Muttersprache Russisch ist. Es gibt viele und ich weiß nicht, wie sie mit diesem Problem umgehen. Ich möchte nicht, dass die russische Sprache als persönlicher Besitz von Wladimir Putin betrachtet wird. Sie gehört Putin nicht. Sie gehört uns allen: Puschkin, Tschechow, jedem."

Boris Akunin kündigte an, dass schon bald eine dystopische Geschichte von ihm erscheinen wird, die von Russland im Jahr 2023 handelt. Sie beginnt nach dem Zusammenbruch des jetzigen politischen Regimes, doch dieser werde nichts Gutes bringen. "Das ist eine schreckliche Geschichte. Ich erzähle darin, dass selbst der Sturz des Regimes nicht den Sieg der Kräfte des Guten bedeutet", so der Schriftsteller.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk