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38 Jahre als Sklavin gehalten

9. Januar 2021

Als Kind klopfte Madalena Gordiano an die Tür einer Familie, um nach Essen zu fragen. Nach 38 Jahren sklavenähnlicher Arbeit wurde die Hausangestellte befreit. Eine brasilianische Leidensgeschichte, die das Land bewegt.

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Brasilien | Madalena Gordiano
Die Afrobrasilianerin Madalena Gordiano nach ihrer Befreiung im Dezember 2020 Bild: Privat

Am 27. November 2020 machen sich Arbeitsinspektor Humberto Monteiro Camasmie und sein Team mit einem richterlichen Durchsuchungsbeschluss auf den Weg zu einer Wohnung. Camasmie ist sonst eher in Betrieben und auf Farmen unterwegs, er koordiniert die Bekämpfung von sklavereiähnlicher Arbeit im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais. 

Doch diesmal ist es anders: Nachbarn eines Universitätsprofessors in der Stadt Patos de Minas haben gemeldet, dass mit dessen Hausangestellter etwas nicht stimme. "Ihnen war aufgefallen, dass Madalena ängstlich wurde, wenn ihre Arbeitgeber sie im Gespräch mit anderen sahen. Als sie anfing, den Nachbarn Zettel unter die Fußmatte zu legen, auf denen sie etwa um Hygieneartikel und kleine Mengen Geld bat, wurden sie endgültig misstrauisch", erzählt Camasmie.

Fünf Quadratmeter ohne Fenster

Vor Ort wird schnell klar: Die Nachbarn haben Recht. Madalena Gordiano arbeitet unter sklavenähnlichen Bedingungen: Sie hat keine Lohnsteuerkarte, es gibt für sie weder feste Arbeitszeiten noch Urlaub oder ein richtiges Gehalt. In der geräumigen Wohnung von Dalton César Milagres Rigueira und seiner Familie haust sie in einem fensterlosen Zimmer von fünf Quadratmetern. 

"Mein Schlafzimmer war wirklich nicht schön", erinnert sich die Afrobrasilianerin heute, sechs Wochen nach ihrer Befreiung. Sie ist nun in einer Unterkunft, wo sie soziale und psychologische Unterstützung erhält. 

Die 46-Jährige kommt gerade vom Arzt, sagt sie im DW-Gespräch. Ihr Rücken schmerze schon seit geraumer Zeit. Auch müsse sie alle möglichen Impfungen nachholen. "Ich muss mich um so vieles kümmern, so viel neu lernen. Zum Beispiel, wie man Geld abhebt oder ein Handy bedient. Mir brummt der Kopf, ich habe noch nicht wirklich verstanden, was mit mir passiert ist," erzählt sie.

Brasilien | Madalena Gordiano
Behördliche Kontrolle auf einer Farm im brasilianischen Bundesstaat Minas GeraisBild: Humberto Monteiro

Erbe der Sklaverei

Seit der Fernsehsender TV Globo am 21. Dezember 2020 über den Fall berichtete, hat die Geschichte von Madalena Gordiano in Brasilien hohe Wellen geschlagen. Denn sie führt dem Land einmal mehr das Erbe der Sklaverei und den tief verwurzelten Rassismus vor Augen - und es ist mehr als nur ein trauriger Einzelfall. 

Die Menschenrechtsorganisation "Walk Free Foundation" schätzt, dass über 350.000 Menschen in Brasilien derzeit unter sklavereiähnlichen Bedingungen leben, also "Situationen der Ausbeutung, die sie aufgrund von Drohungen, Gewalt, Zwang, Täuschung oder Machtmissbrauch nicht verhindern oder verlassen" können.

Über 55.000 Arbeiterinnen und Arbeiter wurden seit dem Beginn staatlicher Kontrollen im Jahr 1995 befreit - aber nur 21 davon waren Hausangestellte. Laut Arbeitsinspektor Camasmie "liegt das zum einen daran, dass wir Privatwohnungen nicht so einfach kontrollieren können. Und zum anderen sind Hausangestellte oft finanziell und emotional so abhängig von den Familien, für die sie arbeiten und bei denen sie wohnen, dass es ihnen enorm schwer fällt, sich aus diesen Strukturen zu befreien."

Angst und Abhängigkeit

Genau diese Abhängigkeit war es, die auch Gordiano daran hinderte, sich aufzulehnen: "Ich wusste, dass etwas nicht richtig war. Aber ich hatte Angst und wusste auch gar nicht, wie ich eine Anzeige bei der Polizei machen soll", erzählt die 46-Jährige.

Aus den Nachforschungen der Inspekteure und Gordianos Aussagen lässt sich ihre Geschichte in Bruchstücken rekonstruieren: Im Alter von acht Jahren klopft das aus ärmsten Verhältnissen stammende Mädchen an die Tür der Familie Rigueira, um Essen zu erbetteln. Den Eltern von Madalena Gordiano wird zugesichert, dass das Mädchen bei der Familie unterkommen und von ihr adoptiert werden könnte.

Brasilien | Madalena Gordiano
Zum ersten Mal in ihrem Leben bekommt Madalena Gordiano eine Puppe geschenkt - Sozialarbeiter unterstützen sie auf ihrem Weg in ein neues LebenBild: Privat

Diese nehmen das Angebot erleichtert an und geben ihre Tochter in die Obhut der Rigueiras. Der Kontakt zur Tochter Madalena ist nur noch sporadisch und bricht später ganz ab. Die in Aussicht gestellte Adoption hat es dagegen nie gegeben.

Liebesheirat mit einem 78-Jährigen?

Die Familie nimmt das Mädchen sofort aus der Schule - stattdessen soll sie von nun an Wäsche waschen, aufräumen, putzen und die Mahlzeiten zubereiten. "Ich sei jetzt alt genug, um zu arbeiten, haben sie gesagt", erinnert sich Gordiano.

Anfang der 2000er Jahre heiratet die nunmehr junge Frau - zumindest auf dem Papier - einen 78-jährigen Verwandten der Familie. Dieser stirbt zwei Jahre später und die stattliche Witwenrente, auf die eigentlich Gordiano ein Anrecht hätte, kassieren von nun an die Rigueiras. Nach einem Bericht der brasilianischen Tageszeitung "Folha de S. Paulo" wird mit dem Geld das Medizinstudium der Tochter finanziert.

"Die Ehe ist in dem Sinne legal, als dass Madalena ihr damals zugestimmt hat. Doch es ist klar, dass das Ganze von der Familie Rigueira eingefädelt wurde, mit dem Ziel sich zu bereichern", ist Camasmie überzeugt. 

2006 wird Madalena Gordiano einem der Söhne der Familie "gegeben", Dalton Rigueira, der zu dem Zeitpunkt bereits einen eigenen Haushalt mit Frau und Kind hat. Von da an verwaltet er ihr Geld.

Mehrjährige Haftstrafen möglich

Dalton Rigueira - der mittlerweile von der Universität entlassen wurde - habe trotz alldem behauptet, Gordiano sei wie eine Schwester für ihn, er habe sie nie zu etwas gezwungen und das ihr zustehende Geld stets an sie weitergegeben, erzählt Camasmie.

Doch er hält das für höchst unglaubwürdig: "Warum zeigen die Kontoauszüge Ausgaben für Dinge, zu denen Madalena nie Zugang hatte, etwa Spritkosten oder Kinobesuche? Warum haben sie Madalena nie zu Freizeitaktivitäten oder Familienfesten mitgenommen? Wie kann ein Universitätsprofessor es akzeptieren, dass seine 'Schwester' keinerlei höhere Bildung erfährt?"

Über ihren Anwalt lassen die Rigueiras ausrichten, sich wegen des laufenden Prozesses gegen sie nicht näher äußern zu wollen. Einigen Familienmitgliedern könnten mehrere Jahre Haft drohen. Stattdessen kritisieren sie die "verfrühte und unverantwortliche" Herausgabe ihrer Daten von staatlicher Seite. 

Doch die öffentliche Aufmerksamkeit, die Madalena Gordianos Fall erfahren hat, habe bereits etwas Gutes erreicht, berichtet Humberto Camasmie: "Alleine in Minas Gerais haben wir seitdem Hinweise auf fünf weitere solcher Fälle erhalten. Es wird in diesem Jahr wohl deutlich mehr Kontrollen in Privatwohnungen geben."

Madalena Gordiano selbst möchte nun lieber nach vorn schauen: "Ich will einfach nur Abstand zu diesen Menschen. Ich möchte die Schule nachholen und reisen. Eine eigene Wohnung wäre schön."

DW Fact Checking-Team | Ines Eisele
Ines Eisele Faktencheckerin, Redakteurin und AutorinInesEis