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Politik

Brasiliens "kollektive Blindheit und Entrüstung"

Thomas Milz
7. Oktober 2018

Nach einem surrealen Wahlkampf wählt das einstige Boom-Land Brasilien an diesem Sonntag einen neuen Präsidenten. Es droht eine weitere Spaltung der nach Wirtschaftskrisen und Korruptionsskandalen erregten Gesellschaft.

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Jair Bolsonaro und Fernando Haddad
Erbitterte Kontrahenten im brasilianischen Wahlkampf: Jair Bolsonaro (links) und Fernando Haddad (rechts)

Was ist nur los mit Brasilien? Das Land sei "unvorhersehbar" geworden, stöhnen ratlose Experten. Auch die Wahlen waren lange "unvorhersehbar", fünf Kandidaten konkurrierten um die Teilnahme an der Stichwahl an diesem 28.Oktober. Doch nun zieht ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem ultra-rechten Ex-Militär Jair Messias Bolsonaro und dem Kandidaten der linken Arbeiterpartei PT, Fernando Haddad auf. "Jetzt ist es ein wenig vorhersehbarer, aber noch nicht entschieden.", so der Politikwissenschaftler Sérgio Praça von der Fundação Getúlio Vargas in São Paulo im DW-Gespräch.

Über Monate hatte Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (2003-2010) haushoch die Umfragen angeführt. Doch der Ex-Volksheld darf nicht antreten, weil er wegen Korruption und Geldwäsche seit April inhaftiert ist. Da Silva sieht in seiner Inhaftierung ein juristisches Komplott gegen ihn.

Ex-Präsident Luiz Inacio Lula da Silva
Sieht sich als Opfer eines Komplotts: Ex-Präsident Luiz Inacio Lula da SilvaBild: picture-alliance/AP Photo/E. Peres

Der nun die Umfragen führende Bolsonaro hat die heiße Wahlkampfphase ebenfalls verpasst. Nach einem Messerattentat lag der bis vor zwei Jahren weitgehend Unbekannte wochenlang auf der Intensivstation. Er sei von Gott berufen, und eine Niederlage akzeptiere er nicht, sagt er nun. Und suggeriert, dass das von ihm wegen des Putsches von 1964 innig geliebte Militär notfalls wieder aktiv werden könnte. Dass ein Kandidat soweit gehe, habe er noch nie erlebt, so der deutsche Journalist Alexander Busch, der seit 1993 aus Brasilien berichtet. "Vorher gab es stets einen demokratischen Konsens."

Das Ergebnis einer langen Krise

Der turbulente Wahlkampf setzt dem Chaos seit den letzten Wahlen 2014 die Krone auf. Mitte der Neunzigerjahre hatte das Land eine Boom-Phase initiiert, doch 2014 flog ein gigantisches Korruptionsnetz auf, in dem die größten Privatunternehmen, Staatsbetriebe und Politiker fast aller Parteien verfangen waren. Wer die "Operation Lava Jato" (Ermittlungen Waschstraße) politisch und juristisch letztlich überlebt, bleibt weiterhin "unvorhersehbar". Prominentestes Opfer bisher ist Ex-Präsident Lula.

Fernando Haddad im Wahlkampf
Fernando Haddad hat von Lula die Präsidentschaftskandidatur geerbtBild: picture-alliance/AP/A. Penner

Mitte September übernahm sein Stellvertreter Fernando Haddad Lulas Kandidatur und erbt nun dessen Stimmen. Bolsonaro wiederum punktet mit dem Argument, Lula sei für Korruption und die Wirtschaftskrise verantwortlich. Die PT wolle Brasilien in ein zweites Kuba verwandeln. Bolsonaro wolle die Militärdiktatur wieder einführen, kontert die PT. Die beiden Lager brauchen einander, um jeweils die eigene Basis mit Hilfe des Feindbildes zu mobilisieren. Und polarisieren so Brasilien bis ins Mark. 

Stimmung ist aggressiv

Mit feministischen Massenprotesten hatten am letzten Wochenende landesweit hunderttausende Demonstranten klargemacht, dass ein Sieg des als homophob, rassistisch und frauenfeindlich geltenden Bolsonaro nicht hinnehmbar sei. Bolsonaros Anhänger schieben den Linken derweil sogar die Schuld für den deutschen Nationalsozialismus in die Schuhe. Hitlers "soziale Arbeiterbewegung" sei in Wahrheit links-radikal gewesen

Jair Bolsonaro im Wahlkampf
Gibt sich siegessicher: Ex-Militär Jair BolsonaroBild: SWR

Die aufgeladene Stimmung im Land sei hauptsächlich Bolsonaro anzukreiden, sagt der Politologe Praça. "Die Leute sind aggressiv und feindlich gegen einander eingestellt. Und nicht nur polarisiert - schließlich gab es stets Polarisierung in der brasilianischen Politik, wie zwischen der PT und den Mitte-Rechts-Parteien PSDB und PMDB. Neu aber ist die Aggressivität - und die kommt von Bolsonaro."

Haushaltsdefizit schlimmer als in Argentinien

Brasilien hatte zwischen 2014 und 2017 mit insgesamt Minus acht Prozent Wirtschaftsleistung eine Bruchlandung hingelegt. Millionen Jobs gingen verloren, der aufstrebende Global Player wurde zum Sorgenkind. Trotzdem komme das Thema Wirtschaft im Wahlkampf überhaupt nicht vor, berichtet der Journalist Alexander Busch, der Brasilien auch als DW-Kolumnist analysiert. Dabei stehe Brasilien "beim Haushaltsdefizit und der Verschuldung schlimmer da als Argentinien. Das Risiko ist, dass sowohl Haddad wie auch Bolsonaro die Probleme herunterspielen." Die Dramatik der Lage werde derzeit von keiner Seite angesprochen. "Das Land rast zwar nicht Richtung Abgrund, bewegt sich aber stetig darauf zu."

Die Diskussionen beschränken sich jedoch darauf, ob die Spendierhosen-Politik der linken PT oder die parlamentarische Sabotage der rechten Opposition letztlich Schuld an der Misere sind. Lulas politische Ziehtochter Dilma Rousseff jedenfalls überlebte die Krise nicht und wurde 2016 von den eigenen Koalitionspartnern gestürzt. Dieser "Putsch" dominiert noch immer den PT-Diskurs - aber "das Impeachment hat wenig Einfluss bei den Wahlen", so Praça. "Lulas Verhaftung jedoch schon." Das Resultat der ideologischen Grabenkämpfe sei auf allen Seiten jedenfalls gleich: "Alle sind voll des Hasses."

Während rechte Kreise bereits von einer Militarisierung der Gesellschaft unter einem Präsidenten Bolsonaro träumen, wirken links-intellektuelle Kreise angesichts der rechten Welle angeschlagen.

Verbrannte Geschichte

Symbolischer Tiefpunkt war der Brand des 200 Jahre alten Nationalmuseums in Rio, bei dem vor einigen Wochen regelrecht ein Teil der brasilianischen Geschichte in Flammen aufging. 

Proteste nach dem Brand im Nationalmuseum
"Ein Museum ist keine Ware" - Studente protestieren nach dem Brand im NationalmuseumBild: picture-alliance/AP Photo/S. Izquierdo

Der Politikwissenschaftler Marco Aurélio Nogueira warnt im Gespräch mit der DW jedoch vor zu viel Melancholie. "Der Museumsbrand hat eine symbolische Kraft, aber man sollte nicht zu viel hineininterpretieren. Brasilien hat nicht Feuer gefangen, schmilzt nicht. Aber wir sind inmitten einer kollektiven Blindheit und Entrüstung. Ernsthaftigkeit und Mäßigung haben derzeit keinen Platz."

Wohl erst nach den Wahlen dürfte es ruhiger werden, schätzt Nogueira. "Wenn sich der Staub gelegt hat, werden in der nächsten Amtsperiode die Gemäßigten zurück auf die Bühne kehren. Zumindest um die Brände zu löschen und unter den Überlebenden zu vermitteln."

Museumsbrand in Rio