Die brasilianische Bildungsmisere
30. Januar 2014Einen "großen Pakt" hatte die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff im Juni 2013 versprochen. Damals waren Millionen Brasilianer auf die Straße gegangen, um gegen die Missstände in ihrem Land zu protestieren. Die Erhöhung der Fahrpreise, gegen die sich der Unmut zunächst richtete, war dabei nur der Anlass. Im Kern ging es um größere Probleme: die Inflation etwa, die Ausstattung des Sozialstaates - und um das Bildungssystem. Dass es um dieses nicht zum Besten stand, zeigte auch der Protest der brasilianischen Lehrer: Sie gingen im Oktober auf die Straße und forderten höhere Gehälter. Ihre Belange, wie auch die der Schüler, sollte der "große Pakt" gleichermaßen berücksichtigen.
Rousseff verkündete Großes: Die Ausgaben für das Bildungswesen sollten drastisch steigen - von derzeit 5,9 auf künftig zehn Prozent des Bruttosozialprodukts. Damit würde Brasilien die von der UNESCO herausgegebenen Richtlinien deutlich übertreffen. In ihrem jüngsten, in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba und in Brasília vorgestellten Weltbildungsbericht von Mittwoch (29.01.2014), empfiehlt sie Bildungsinvestitionen in Höhe von sechs Prozent des jeweiligen Bruttosozialprodukts. "Teaching and learning: Achieving quality for all" - "Lehren und Lernen: Qualität für alle erreichen", so ist der Bericht überschrieben. Er beschreibt die Qualität des brasilianischen Bildungssystems - und lässt sich zugleich als Empfehlung lesen, die in Aussicht gestellte Erhöhung des Bildungsbudgets tatsächlich anzugehen.
Analphabet trotz Schulbesuch
Denn die Bilanz des brasilianischen Bildungssystems ist gemischt. So verfügen zwar sehr viele Brasilianer über eine befriedigende Grundschulbildung. Doch immer noch können 13 Millionen Menschen, die eine Schule besucht haben, weder lesen noch schreiben - ein bei einer 195 Millionen starken Bevölkerung unbefriedigender Zustand.
Das ist allerdings nicht ausschließlich eine Frage des Geldes. "Der Schwachpunkt ist die Qualität des Unterrichts", sagt Maria Rebeca Otero, die bei der UNESCO die Bildungskoordination für Brasilien verantwortet. "Die Schüler gehen zwar in die Schule, aber sie lernen nichts." Man könne daher von einer innerschulischen Segregation sprechen: 22 Prozent der Schüler verließen die Schule, ohne über hinreichende Lesefähigkeiten zu verfügen. Und 39 Prozent hätten nach Verlassen der Schule keine grundlegenden mathematischen Kenntnisse.
Zerfasertes System
Das brasilianische Bildungssystem leidet zudem unter strukturellen Schwierigkeiten - etwa unter seinem föderalen Aufbau. So werden die Grundschulen von den Kommunen verantwortet, die weiterführenden Schulen von den Bundesstaaten, während die Verantwortung für die Hochschulen teils beim Gesamtstaat, teils bei den einzelnen Bundesstaaten liegt. Für Erasto Fortes, Mitglied des Nationalen Erziehungsrates, ist diese Struktur einer der Gründe für die Schwächen des derzeitigen Bildungssystems: "Zwischen den einzelnen Instanzen besteht keine Solidarität. Es findet ein Konkurrenzkampf statt, der eine nationale flächendeckende Politik verhindert."
Allerdings, erklärt Maria Rebeca Otero, könne die brasilianische Bildungspolitik auch erhebliche Erfolge vorweisen. Dazu zählten etwa Einrichtungen wie die "Stiftung für den Erhalt und die Entwicklung der Grundschulausbildung und der Valorisierung der Ausbildung" (FUNDEB). Der UNESCO-Bericht würdigt ihr Engagement, das den Anteil der aus den ärmsten Haushalten stammenden Schüler auf rund 20 Prozent hat ansteigen lassen. Ebenso hat sie die Zahl der Ersteinschreibungen an Universitäten steigern können. "Die FUNDEB ist ein gutes Beispiel für das gesamte Land. Aber die Verwaltung der Ressourcen ist landesweit weiterhin defizitär", so Otero gegenüber der DW.
Unsichere Finanzierung
Ob es wirklich zur angekündigten Erhöhung des Bildungshaushaltes kommt, ist darum noch nicht ausgemacht. Zwar soll die Erhöhung per Gesetz verankert werden. Um die entsprechende Vorlage wird aber derzeit in den beiden Kammern des Kongresses noch gerungen. Vor allem die Finanzierbarkeit steht zur Debatte. Ein bereits im vergangenen Jahr erlassenes Gesetz sieht vor, dass 75 Prozent der im Erdölgeschäft erwirtschafteten Einnahmen in den Bildungssektor investiert werden.
Allerdings fürchtet José Marcelino de Rezende Pinto, Professor an der Philosophischen Fakultät von São Paulo, dass dieses Geld nicht reichen wird, um die für Bildungsinvestitionen vorgesehenen Ausgaben komplett zu decken. "Der brasilianische Bildungsminister hat bereits zugegeben, dass dies nicht möglich ist", sagt Rezende Pinto. "Jetzt liegen die Dinge wieder beim Kongress. Wenn die aus den Erdöleinnahmen stammenden Summen nicht reichen, sind zusätzliche Anstrengungen nötig." Und so stünden die anvisierten Bildungsausgaben von zehn Prozent des Bruttosozialprodukts wieder in Frage.