Brexit: Zwei Autos rasen aufeinander zu
Theresa May hatte geglaubt, sie könne den EU-Regierungschefs in Salzburg Zugeständnisse abringen. Dieses Treffen werde die Wende bei den Brexit-Verhandlungen bringen, hatte sie verbreiten lassen. In freundlich entspannter Atmosphäre hörten ihre europäischen Kollegen zu, als sie noch einmal ihren Chequers-Plan - eine Teilmitgliedschaft in einem Binnenmarkt für Güter - als einzig mögliche Kompromissformel anpries. Und dann schickten sie May mit leeren Händen wieder weg. Sie warten sowieso erst den Parteitag der Konservativen ab, denn niemand weiß ja, ob und wie sie den überlebt. Die EU spielt jetzt auf Zeit.
Immerhin haben die Regierungschefs ein Signal gegeben und einen Sondergipfel für Mitte November angesetzt. Dann sind es nur noch vier Monate bis zum Austritt, und die Zeit drängt wirklich. Oder vielleicht auch nicht? Wenn man sich die Choreographie dieser Verhandlungen zuletzt anschaut entsteht Eindruck, dass die Europäer hier auf das Gesetz der politischen Schwerkraft setzen. Eine Einigung wird dann möglich sein, wenn der Druck innerhalb der britischen Regierung ins Unerträgliche gestiegen ist. Den Zeitpunkt des größtmöglichen Leids in London könnte man auch erst im Januar erreichen. Oder sogar im Februar.
Lösung in letzter Minute?
Inzwischen gibt es von europäischer Seite Hinweise darauf, dass der nötige Ratifizierungsprozess für ein Abkommen auch ziemlich schnell gehen könnte. Das bedeutet, dass "last minute" bei den Brexit-Verhandlungen wörtlich zu nehmen sein könnte. Wenn die britische Premierministerin nach Salzburg fuhr in der Hoffnung, sie könne die EU verleiten zuerst zu blinzeln, dann hat sie sich verkalkuliert.
Hier wird das altbekannte Feiglingsspiel aufgeführt, bei dem zwei Autofahrer mit hohem Tempo aufeinander zurasen - wer zuerst ausweicht, hat verloren. Die Briten nennen das "a game of chicken", und zum Huhn wird derjenige, der die Nerven verliert. Die Europäer glauben sich dabei auf der sicheren Seite. Zwar wollen auch sie einen geordneten Austritt und eine Übergangsphase, um die katastrophalen Folgen eines wilden Brexit zu vermeiden. Aber sie glauben sie eher verkraften zu können als das Königreich. Um ihm Bild zu bleiben: Sie wähnen sich beim Spiel mit den zwei Autos im Laster, während die Briten eher im Mini sitzen.
Zukunft ungewiss
Man braucht keine hellseherischen Fähigkeiten um zu wissen, dass die Wirtschaft in Großbritannien in den nächsten zwei Monaten immer nervöser werden und gleichzeitig Notfallpläne in Gang setzen wird. Und es wird zunehmend ökonomischer Schaden entstehen. Das bedeutet aber, dass die politische Lage in London mit zerstrittenen Konservativen, einer unentschlossenen Opposition und einer verunsicherten Öffentlichkeit sich weiter zuspitzen wird.
Wie lange hält Theresa May das durch? Hat sie überhaupt für irgendeine Kompromisslösung eine Mehrheit im Parlament? Oder kommt es doch noch zu einem zweiten Referendum? Es ist weiter offen, ob die Premierministerin den Brexit in den nächsten Monaten tatsächlich durchpeitschen kann oder die Situation im Chaos und eventuellen Neuwahlen endet.
Noch viel zu tun
Die Bundeskanzlerin hat deutlich gesagt, dass noch viel Arbeit bis zu einer Einigung zu leisten ist. Und es wird für die Briten dabei keine Spaltung des Binnenmarktes geben. Was Theresa May als Chequers-Plan verkauft, wird die EU ihr nicht zugestehen. Eine Teilmitgliedschaft in einem Güter-Binnenmarkt überschreitet die roten Linien der Europäer. Diesen Kompromiss werden die 27 nicht mitmachen. Der niederländische Premier Mark Rutte hat auf diese Frage geantwortet: "Wir sind interessiert am Handel mit Großbritannien, aber wir sind noch interessierter am Handel mit den 400 Millionen Bürgern im Binnenmarkt."
Die EU wird britischen Wünschen hier nicht entgegenkommen. Sie handelt im eigenen Interesse und schützt ihre Wirtschaft davor, dass ein scheidendes Mitgliedsland die Regeln aushöhlt. Auf dem Tisch liegt für die Briten weiter eine Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum nach dem Norwegen-Modell oder ein Freihandelsabkommen nach dem Kanada-Modell. Sie haben noch drei, vier oder sogar fünf Monate Zeit, sich zu entscheiden.