Neuausgabe: Brigitte Reimanns "Die Geschwister"
14. Februar 2023Die Handlung von "Die Geschwister" setzt 1961 ein, wenige Monate vor dem Bau der Mauer. Damals waren Ost- und Westdeutschland bereits Jahre geteilt, wenn auch noch nicht durch Beton getrennt, und die DDR-Regierung versuchte mit allen Mitteln, die Abwanderung von Intellektuellen und Arbeitskräften zu verhindern. Nun wurde die Erzählung ins Englische übersetzt, 50 Jahre nach dem frühen Krebstod ihrer Autorin im Jahr 1973.
Elisabeth, die Hauptfigur, ist eine junge Malerin. Ihr Bruder Uli möchte in den Westen auswandern. Der andere Bruder, Konrad, hat dies zwar schon einige Jahre zuvor getan, doch Elisabeths Enttäuschung ist groß, als sie erfährt, was Uli vorhat. Sie versucht, ihn zum Bleiben zu bewegen. Doch im Arbeiter-und-Bauern-Staat sieht ihr Bruder keine Zukunft. Außerdem hat die Staatsmacht den jungen Ingenieur im Visier.
Als Künstlerin mit einer starken Meinung war auch Elisabeth schon mit den Autoritäten in Konflikt geraten, doch sie beweist Uli nach einem Zusammenstoß mit einer örtlichen Parteisekretärin der SED, dass solche Konflikte mit genug Entschlossenheit gelöst werden können.
Inspiriert von der eigenen Geschichte
Brigitte Reimanns eigener Bruder verließ die DDR 1960, kurz danach begann sie mit der Arbeit an "Die Geschwister". Wie Elisabeth lebte Reimann auf dem Grundstück einer Fabrik - in der damals wegen der nahegelegenen Braunkohleindustrie rasant wachsenden Kleinstadt Hoyerswerda. Viele Künstlerinnen und Autoren in der DDR taten dies und folgten damit einem staatlichen Programm mit dem Namen "Bitterfelder Weg", das sie ermutigte, gemeinsam mit der Arbeiterklasse zu leben und zu arbeiten. Damit sollte kulturelle Elitenbildung verhindert werden.
In ihren Tagebüchern wird klar, dass Reimann leidenschaftlich an den Sozialismus glaubte, und Elisabeth ist eine Art Alter Ego von ihr. Aus heutiger Sicht und mit dem Wissen, dass die DDR ein totalitäres System war, erscheinen die Ansichten Reimanns, die damals in ihren Zwanzigern war, politisch naiv. Übersetzerin Lucy Jones erinnert daran, dass Deutschland damals mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs und der Nazidiktatur zu kämpfen hatte, und Reimann "wollte an einem Staat mitwirken, der das absolute Gegenteil des Faschismus darstellt".
Jones möchte im Blick auf das Buch die üblichen Klischees über die DDR vermeiden. "In Wahrheit war alles noch viel komplizierter, als es bisher je ein Film dargestellt hat", so Jones gegenüber der DW. Trotz ihres Idealismus stand Reimann vielen Aspekten des neuen Staates kritisch gegenüber, was sich auch in den Gedanken Elisabeths widerspiegelt.
Reimann fiktionalisierte ihren "zutiefst persönlichen Konflikt und gleichzeitig den einer ganzen Generation", die mit der Teilung Deutschlands zurechtkommen musste, sagt Nele Holdack im DW-Interview. Die leitende Lektorin für moderne Klassiker im Berliner Aufbau Verlag ist für eine Neuausgabe der Erzählung verantwortlich, die am 14. Februar erscheint. Reimann sei "sehr mutig" gewesen, dieses Thema zur damaligen Zeit anzupacken.
Originalmanuskript tauchte 2022 auf
Die Erzählung zeigt die Zweifel der jungen Generation an der DDR in einem solchen Ausmaß, dass es verwundert, dass "Die Geschwister" nicht der staatlichen Zensur zum Opfer fiel. Anlässlich der Vorbereitungen zu Reimanns Todestag, der sich am 20. Februar zum 50. Mal jährt, wollte man im Aufbau Verlag mehr über die Hintergründe des Buchs herausfinden. Durch Zufall wurde das Originalmanuskript entdeckt - an einem Ort, den die Herausgeberinnen und Herausgeber als "Harry-Potter-Schrank unter der Treppe" in Reimanns ehemaliger Wohnung in Hoyerswerda bezeichnen. Es bildet nun die Grundlage für die deutschsprachige Neuveröffentlichung.
Reimann erwähnt in einem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1962, kurz vor der ersten Veröffentlichung ihres Buchs, dass verschiedene Szenen aus "Die Geschwister" gestrichen werden sollten - von Elisabeths hitziger Diskussion mit einem Stasi-Agenten über Hinweise auf ihren sexuell befreiten Lebensstil. Doch Brigitte Reimann setzte sich gegen das Verlagshaus durch.
Um das Buch durch die Zensur zu kriegen, fand der Verlag Mittel und Wege, die systemkritischen Szenen in der Erzählung herunterzuspielen. In ihrer Bewertung des Werks schrieben die Herausgeber, dass Elisabeths Argumente so stichhaltig seien, dass Leserinnen und Leser hofften, Uli möge "den rechten Pfad finden".
Um die Erlaubnis zur Veröffentlichung vom Kulturministerium zu erhalten, brauchte es auch einen Report von außerhalb der Literaturszene. Den ersten, zu negativen, reichte der Verlag nie ein. Stattdessen wurde ein weiterer eingeholt. Dieser kam zu dem Schluss, dass die Erzählung durch die Behandlung "realer Probleme" siginifikante Diskussionen anregen könne, ganz im Gegensatz zum Schaden, den eine "vereinfachte Darstellung der Probleme der DDR" anrichten würde.
Gegen die DDR-Bürokratie
Nach dem elften Plenum des Zentralkomitees der SED im Jahr 1965 verschärfte sich die Zensur. Reimann war, wie viele andere Künstler auch, von der Politik enttäuscht, aber sie kämpfte weiter für die Meinungsfreiheit. "Sie glaubte wirklich, dass Bürokraten nichts darüber zu sagen haben sollten, wie Schriftsteller sich ausdrücken können", sagt Jones. "Sie war bei diesen Treffen sehr lautstark und wütend und setzte sich für die Redefreiheit ein."
Als Schriftstellerin, die sich geradeheraus äußerte, ihre künstlerischen Ambitionen verfolgte und einen sexuell befreiten Lebensstil führte, verkörperte Reimann schon damals die feministischen Werte von heute.
"Sie war eine so lebensfrohe Frau", sagt die Lektorin Nele Holdack. "Sie war überzeugt davon, dass sie ein Recht hatte auf ein freies, selbstbestimmtes, glückliches Leben. Und sie war überhaupt nicht bereit, Kompromisse zu machen. Sie ist wirklich mutig für ihre eigenen Überzeugungen eingetreten und konnte sich in einem hart umkämpften literarischen Feld, das auch in der DDR von Männern dominiert wurde, sehr gut behaupten."
Holdack schätzt an dem Buch "Geschwister" auch seine Aktualität, denn wir alle hätten in Zeiten politischer Unsicherheit die Verantwortung, uns über unsere Wertvorstellungen klarzuwerden und zu prüfen, was wir bereit wären, dafür aufzugeben.
Eine verlorene Heimat in Reimanns Büchern finden
Reimann schaffe es immer noch, die Menschen mit einem bestimmten Gefühl zu verbinden, hat Übersetzerin Lucy Jones kürzlich bei einer Buchvorstellung festgestellt. Die Veranstaltung präsentierte Carolin Würfels "Drei Frauen träumten vom Sozialismus", ein Sachbuch, das Reimanns Freundschaft mit den ostdeutschen Schriftstellerinnen Christa Wolf und Maxie Wander beleuchtet. Der Raum war voller Menschen, die sich begeistert an das Spätwerk der Autorin erinnerten, das sie in ihrer Jugend gelesen hatten. Dazu zählte auch Reimanns berühmtester Roman "Franziska Linkerhand", ein unvollendetes Werk, das dennoch 1974 posthum veröffentlicht und zu einem Bestseller wurde.
Die Menschen, die in der DDR lebten, haben "buchstäblich das Land nicht mehr, in dem sie aufgewachsen sind", betont die Übersetzerin Jones. Ohne in Nostalgie über einen totalitären Staat zu verfallen, könnten wir dennoch anerkennen, dass diese Menschen ihr Land verloren haben. Und nun seien "die Bücher das Land geworden, in dem sie sich zu Hause fühlen".
Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.