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PolitikBulgarien

Bulgariens zaghafter Blick auf die kommunistische Diktatur

10. November 2024

Wohl kein anderes einst kommunistisches Land tut sich so schwer, seine Vergangenheit aufzuarbeiten. Die Hoffnungen ruhen auf der Zivilgesellschaft.

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Ein verfallener rechteckiger Wachturm mit einem vernagelten Fenster; die Treppe verschwindet teilweise unter wuchernden Sträuchern.
Maroder Wachturm des ehemaligen Konzentrationslagers Belene auf einer Donau-Insel an der Grenze zwischen Bulgarien und Rumänien Bild: Marcel Fürstenau/DW

Mihail Marinov, Direktor der "Stiftung Insel Belene", hat einen Traum. Sein Traum hat nichts mit Naturschutz zu tun, obwohl dieses idyllische Eiland an der bulgarisch-rumänischen Grenze der Donau ein riesiges Feuchtbiotop ist. Knapp 500 Vogelarten gibt es hier, darunter Seeadler und Pelikane, dafür ist die Gegend berühmt.

Berüchtigt ist sie aus einem anderen Grund: Hier wurden von 1949 bis 1989 rund 15.000 Menschen interniert, die in den Augen der Kommunisten Feinde des Regimes waren.

Viele von ihnen starben an den Folgen von Zwangsarbeit und Unterernährung. Um diese Menschen geht es Marinov und seiner zivilgesellschaftlichen Organisation: "Unser Wunsch ist, dass dieser Ort ein Teil des europäischen Netzwerks der Gedenkstätten wird und nicht nur Menschen aus Bulgarien hierherkommen."

Ruderboote liegen in der Kleinstadt Belene am Ufer der Donau; Nebelschwaden liegen über dem Fluss.
Idylle und Horror in Belene: Auf der einen Uferseite kann man Boote mieten, auf der anderen Seite war ein Konzentrationslager Bild: Marcel Fürstenau/DW

Über die Donau zum ehemaligen Konzentrationslager Belene

Der Weg zu diesem Ziel ist aber auch 35 Jahre nach dem Ende der kommunistischen Diktatur noch sehr weit - und beschwerlich. Um die ruinenhaften Reste des Lagers Belene sehen zu können, muss man zunächst die Donau auf einer Pontonbrücke überqueren. Anschließend folgt eine zehn Kilometer lange Autofahrt auf einer mit Schlaglöchern übersäten, einspurigen Straße.

Marinov und sein Team muten sich diese Fahrt regelmäßig zu - und sie tun das mit viel Herzblut. Sie sind froh über jeden Besuch aus dem In- und Ausland, um ihre Vision von einer Gedenkstätte Belene zeigen zu können. Das ist nur mit einer Passkontrolle möglich, weil auf der Insel noch immer ein normales Gefängnis betrieben wird, das schon zu Zeiten des Konzentrationslagers existiert hat.

"Wir wollen die gesamte Infrastruktur des Lagers wiederherstellen, so wie es in den 1950er Jahren gewesen ist", erläutert Marinov das Konzept. Dazu gehören auch die einstigen Holzbaracken für Häftlinge, von denen es keine Fotos gibt. Zum Glück könnte bei der Rekonstruktion auf heimlich angefertigte Zeichnungen eines ehemaligen Insassen zurückgegriffen werden.

Mihail Marinov von der "Stiftung Insel Belene" steht vor der Wand einer Häftlingsbaracke des ehemaligen Konzentrationslagers Belene in Bulgarien
Mihail Marinov von der "Stiftung Insel Belene" will aus dem ehemaligen KZ Belene einen internationalen Gedenkort machenBild: Marcel Fürstenau/DW

Doch bis die Ideen der "Stiftung Insel Belene" Wirklichkeit werden, dürften noch viele Jahre vergehen. Darüber macht sich Marinov keine Illusionen. So sieht es auch Louisa Slavkova von der "Sofia Platform", die sich ebenfalls um Fortschritte bei der Aufarbeitung der Vergangenheit kümmert. "Auf der staatlichen Ebene passiert so gut wie gar nichts", sagt sie der DW.

Bulgarien fördert Kommunismus-Forschung nicht

Zwar sei der Kommunismus nach der Jahrtausendwende offiziell als verbrecherisches Regime verurteilt worden, aber man habe sich nicht für die Opfer eingesetzt. "Es gibt in Bulgarien zum Thema Kommunismus und seine Folgen weiterhin keine staatlich geförderte Forschung." Auch ein Museum zur Diktatur-Geschichte sucht man zu Slavkovas Bedauern vergeblich.

"Das führt dazu, dass es im öffentlichen Diskurs kein Gedenken an die Opfer gibt." Um das zu ändern, engagiert sich die "Sofia Platform" vor allem im Bildungsbereich. Auch da gibt es sehr viel Nachholbedarf, denn die jüngere Vergangenheit Bulgariens war bis 2018 kein Thema im Schulunterricht.

In Familien wird wenig über die Diktatur gesprochen

Auch im privaten Umfeld dominierte lange das Schweigen. Eines des zentralen Ergebnisse in einer 2014 durchgeführten Studie der "Sofia Platform": Eltern haben mit ihren Kindern kaum über die Diktatur gesprochen.

Louisa Slavkova von der "Stiftung Sofia Platform“ lächelt in die Kamera.
Louisa Slavkova von der "Stiftung Sofia Platform“ wünscht sich mehr staatliche Unterstützung bei der Aufarbeitung der Vergangenheit Bild: Marcel Fürstenau/DW

Anders sei das im Austausch mit den Großeltern - allerdings auf eine problematische Art: "Das ist die Generation, die zu den typischen Wählern der ehemals kommunistischen Partei zählen", sagt Slavkova. Die Folge: "Sie geben unreflektiert die nostalgischen Geschichten über die schöne, alte Zeit weiter."

"Junge Menschen wissen inzwischen mehr"

Dennoch ist die Politikwissenschaftlerin zuversichtlich, weil der Kommunismus in Schulen kein Tabu-Thema mehr sei. Zaghafte Erfolge sind schon erkennbar, wie eine aktuelle Studie der "Sofia Platform" vermuten lässt: "Junge Menschen wissen inzwischen mehr", schlussfolgert Slavkova aus den Ergebnissen der Befragung. Dafür sorgt auch ihre zivilgesellschaftliche Organisation mit modernen Formaten der Geschichtsvermittlung.

Prunkstück ist ein 2021 gestartetes Zeitzeugen-Projekt mit Überlebenden des Konzentrationslagers Belene. In mehrstündigen Interviews haben sie über ihren Alltag im Lager erzählt: Zwangsarbeit, Hunger, Folter, Verzweiflung, Hoffnung. Die Aufzeichnungen sind im Internet unter "belene.camp" abrufbar - für ein internationales Publikum auch in englischer und deutscher Übersetzung. 

Virtuelle Gespräche mit ehemaligen Belene-Häftlingen

Das Besondere: Man kann den ehemaligen Lagerinsassen virtuell Fragen stellen. Ein auf künstlicher Intelligenz (KI) basierendes Programm sucht dann Video-Sequenzen mit den passenden Antworten heraus. Auf diese Weise erfährt man zum Beispiel etwas über die schlechte Qualität des Essens, die viel zu kleinen Portionen oder über die primitiven Baracken, in denen die Gefangenen auf engstem Raum zusammengepfercht waren.  

Das restaurierte, hölzerne Eingangstor des ehemaligen Konzentrationslagers Belene in Bulgarien. Im Hintergrund die Ruinen von steinernen Baracken, in denen KZ-Insassen eingesperrt waren. Die Reste des ehemaligen Lagers befinden sich auf der Donau-Insel Persin an der bulgarisch-rumänischen Grenze
Restauriertes Eingangstor auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Belene in BulgarienBild: Marcel Fürstenau/DW

Das Interesse an diesem Format der Oral History, bei dem Zeitzeugen aus ihrem Leben berichten, ist groß. Innerhalb eines Jahres habe es über 100.000 Abrufe gegeben, freut sich Slavkova über die Resonanz auf das interaktive Format. "Das ist gerade für junge Leute spannend, weil es zu ihrer digitalen Kommunikation passt."

Sprachlosigkeit mit Literatur überwinden

Insgesamt werde in der bulgarischen Gesellschaft aber immer noch über viele heikle Themen geschwiegen, bedauert die Direktorin der "Sofia Platform". Deshalb erhofft sie sich für die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit zusätzliche Impulse aus der Wissenschaft und der Kultur. Slavkova denkt dabei an Menschen wie Georgi Gospodinov. Der Schriftsteller ist 2023 für seinen Roman "Zeitzuflucht" mit dem britischen Booker Prize ausgezeichnet worden.

Der 56-jährige bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov hat kurze, dunkle Haare; über einem türkisfarbene Hemd trägt er ein hellblaues Jackett.
Schriftsteller Georgi Gospodinov: "Man hat uns nicht beigebracht, wie man lernt, frei zu sein." Bild: Italy Photo Press/IMAGO

"Die persönliche Geschichte ist nicht von der großen Geschichte zu trennen", sagt der in Sofia lebende Autor. Mit Blick auf sein Heimatland bedeutet das aus seiner Sicht vor allem, dass es in Bulgarien während der kommunistischen Diktatur keine größeren Widerstandbewegungen gegeben hat. Gospodinov erinnert in diesem Zusammenhang an die Volksaufstände in anderen Ländern: DDR (1953), Ungarn (1956), Tschechoslowakei (1968) und Polen (1980).

Aus Kommunisten wurden Sozialisten

"Wir haben wichtige Jahre verpasst", beklagt der 56-Jährige die weit verbreitete Passivität der Menschen in Bulgarien. Es gab weder eine friedliche Revolution noch eine blutige. Stattdessen sorgten die Kommunisten dafür, dass sie selbst von der Zeitenwende in Europa profitierten.

Am 10. November 1989, einen Tag nach dem Fall der Berliner Mauer, wurde der seit 35 Jahren regierende Staatschef Todor Schiwkow zum Rücktritt gezwungen. Die Bulgarische Kommunistische Partei (BKP) änderte ihren Namen in Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) und gewann bei den ersten demokratischen Wahlen im Oktober 1990 die absolute Mehrheit. Zum Vergleich: Im wiedervereinten Deutschland erhielten die ehemaligen Kommunisten bei der Wahl im Dezember desselben Jahren 2,4 Prozent.

Das verfallende kommunistische Busludscha-Denkmal mit seinem 70 Meter hohen Turm befindet sich im Balkan-Gebirge. Das Hauptgebäude wird wegen seiner kreisrunden Form im Volksmund als Ufo bezeichnet.
Symbol aus vergangenen Zeiten: Das verfallende Busludscha-Denkmal war mal eine Art Wallfahrtsort im kommunistischen Bulgarien Bild: Marcel Fürstenau/DW

Mit der neuen Freiheit überfordert

Georgi Gospodinov hat für den Erfolg der alten Eliten kurz nach dem Ende der Diktatur nur eine Erklärung: "Wir wussten nicht, wie wir protestieren sollten. Man hat uns nicht beigebracht, wie man lernt, frei zu sein." Seitdem sind 35 Jahre vergangen.

Alles geht sehr langsam voran. Während die Akten der Staatssicherheit (kurz: Stasi) in Deutschland schon seit 1992 zugänglich sind, dauerte es in Bulgarien bis 2007. Zuständig ist eine Organisation mit einem ungewöhnlich langen Namen: Ausschuss für die Offenlegung der Dokumente und die Bekanntgabe der Zugehörigkeit bulgarischer Bürger zur Staatssicherheit und zum Nachrichtendienst der bulgarischen Volksarmee (COMDOS).

Belastende Stasi-Akten wurden überwiegend vernichtet

Rund 60 Prozent des ursprünglichen Aktenbestands sollen erhalten geblieben sein. Der Rest wurde demnach vernichtet, darunter sehr wahrscheinlich viele belastende Informationen über das unmenschliche Überwachungssystem der Geheimdienste und die dafür Verantwortlichen.

Fundstück aus dem Archiv der bulgarischen Stasi-Akten-Kommission „COMDOS“: Delegationen der Staatssicherheitsdienste Bulgariens und der DDR 1967 eine Vereinbarung über die weitere Entwicklung der operativen Zusammenarbeit getroffen.
Fundstück aus dem bulgarischen Stasi-Akten-Archiv: eine Kooperationsvereinbarung mit der DDR aus dem Jahr 1967 Bild: Marcel Fürstenau/DW

Seit Öffnung des Stasi-Archivs wurden nach offiziellen Angaben über 410.000 Personen daraufhin überprüft, ob sie für die Staatssicherheit oder den Geheimdienst des Militärs gearbeitet haben. In fast 21.000 Fällen waren die Recherchen positiv.

Der Schriftsteller Georgi Gospodinov zieht ein zwiespältiges Fazit: "Wir haben viel von der deutschen Vergangenheitsbewältigung gelernt." Aber ihm sei auch klar, dass in Bulgarien noch immer viele Menschen lieber schweigen als reden.  

Dieser Artikel ist im Rahmen einer Studienreise der "Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur" nach Bulgarien entstanden. Die Stiftung widmet sich der Auseinandersetzung mit den kommunistischen Diktaturen in Deutschland und anderen Ländern.

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland