Steinmeier übt scharfe Kritik an Erdogan
22. Juli 2017Im Streit mit der Türkei erhebt auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (Artikelbild) schwere Vorwürfe gegen Staatschef Recep Tayyip Erdogan. "Er versucht nicht nur, das Land auf sich zuzuschneiden, sondern auch die Reste an Kritik und Opposition werden jetzt verfolgt, werden ins Gefängnis gesteckt, werden mundtot gemacht", sagte Steinmeier in vorab veröffentlichten Auszügen aus dem ZDF-Sommerinterview. Die deutliche Kritik der Bundesregierung und die Neuausrichtung der deutschen Türkei-Politik seien daher richtig. Was in der Türkei passiere, "können wir nicht hinnehmen". Das sei auch eine "Frage der Selbstachtung" unseres Landes, sagte Steinmeier.
Den offen Brief von Außenminister Sigmar Gabriel an die türkischstämmige Bevölkerung in Deutschland begrüßte Steinmeier. Er könne sich vorstellen, dass bei den drei Millionen Deutschtürken der Schmerz am allergrößten sei, wenn sie beobachteten, dass die Brücken, die von vielen gebaut worden seien, von der Regierung in Ankara abgerissen würden. "Das ist wirklich bitter und deswegen war ein Wort an die türkischstämmige Bevölkerung nötig", so Steinmeier.
Auch die Türkische Gemeinde in Deutschland hatte Gabriels Brief begrüßt. "In der jetzigen Situation ist es richtig, Dialogbereitschaft zu zeigen", sagte der Vorsitzende des Dachverbandes von etwa 260 Einzelvereinen, Gökay Sofuoglu, der Zeitung "Welt am Sonntag". Die Anerkennung und politische Vertretung von türkeistämmigen Menschen sei zu lange vernachlässigt worden. "Wir würden uns wünschen, dass wir in dieser Krise näher zusammenrücken. Der Außenminister hat einen Anfang gemacht."
Zugleich appellierte Sofuoglu an die rund drei Millionen Türken und türkischstämmigen Menschen, ihren Fokus auf Deutschland zu richten: "Unsere Forderungen für bessere Bildungschancen, gerechtere Löhne und die Abschaffung von institutionellem Rassismus können nur hier erstritten werden."
Deutsch-türkische Freundschaft als "großer Schatz"
Bundesaußenminister Gabriel hatte bei den Türken in Deutschland um Verständnis für die härtere Gangart in den Beziehungen zur Türkei geworben. Die Bundesregierung könne nicht tatenlos zusehen, wenn "unbescholtene deutsche Staatsbürger ins Gefängnis gesteckt" würden, schrieb der SPD-Politiker in einem in der "Bild"-Zeitung abgedruckten Gastbeitrag auf Deutsch und Türkisch.
Deutschland werde die Zusammenarbeit und vor allem die wirtschaftlichen Hilfen für die Türkei auf den Prüfstand stellen "und auch in Europa für eine klare Haltung eintreten", schrieb Gabriel. "Nichts davon richtet sich gegen die Menschen in der Türkei und unsere Mitbürger mit türkischen Wurzeln in Deutschland." Die Freundschaft zwischen Deutschen und Türken sei ein großer Schatz. Die türkischstämmigen Menschen in Deutschland "gehören zu uns - ob mit oder ohne deutschen Pass". In Deutschland leben rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln.
Einen Tag vor Gabriels Schreiben hatte die Bundesregierung eine Neuausrichtung der Türkei-Politik angekündigt. So verschärfte das Auswärtige Amt mitten in den Sommerferien die Reisehinweise für die Türkei. Außerdem will Berlin die staatliche Absicherung für Unternehmensinvestitionen, die sogenannten Hermes-Bürgschaften, und die EU-Gelder für die Türkei auf den Prüfstand stellen. Die Bundesregierung reagierte damit auf Deutschland auf die Inhaftierung des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner in der Türkei.
EU unterstützt deutsche Türkei-Politik
Dabei wird sie von der EU-Kommission unterstützt. "Die Reaktion Deutschlands ist verständlich", sagte der zuständige EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn der Zeitung "Die Welt". Alle hätten "große Geduld mit der Türkei bewiesen", doch die "scheint dies nicht wertzuschätzen", sagte er und warf dem EU-Beitrittskandidaten einen "destruktiven Kurs" vor. Trotz gegenteiliger Rhetorik bewege sich die Türkei immer weiter weg von europäischen Standards. Die Verhaftungen von Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, Oppositionellen und anderen Menschen sei inakzeptabel, sagte Hahn.
Schulz und Seehofer fordern härte Konsequenzen
SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz warf Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor, eine klare Konfrontation mit Erdogan zu scheuen. "Frau Merkel hat die Angewohnheit, Problemen auszuweichen", sagte Schulz im "Interview der Woche" des Deutschlandfunks. Irgendwann sei aber der Punkt erreicht, "wo ein Regierungschef sagen muss, es reicht".
Auch dem CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer geht die deutsche Reaktion nicht weit genug. "Ich unterstütze die Maßnahmen der Bundesregierung, halte aber noch mehr für notwendig, um unsere politische Ernsthaftigkeit unter Beweis zu stellen", sagte Seehofer der "Welt am Sonntag". So könnte das Auswärtige Amt "je nach weiterer Entwicklung" eine offizielle Reisewarnung aussprechen. Das Thema einer türkischen EU-Vollmitgliedschaft habe sich "endgültig erledigt". Die EU solle bis 2020 vorgesehene Zahlungen von gut vier Milliarden Euro an die Türkei als EU-Beitrittskandidat stoppen, forderte Seehofer.
Ob dies überhaupt geht, ist laut einem Bericht der "Süddeutschen Zeitung" aber fraglich. Im laufenden Programm IPA II gebe es eine frühere Klausel nicht mehr, dass die Wahrung demokratischer und rechtsstaatlicher Grundsätze eine Voraussetzung für die Gewährung der Hilfen als EU-Beitrittskandidat sei. Nach einem Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags sei daher "eine Suspendierung der Hilfe nicht möglich, solange das Beitrittsverfahren der Türkei andauert".
Neue Haftbefehle gegen Menschenrechtler
In der Türkei ergingen unterdessen laut einem Zeitungsbericht neue Haftbefehle gegen vier zuvor freigelassene Menschenrechtsaktivisten. Die Zeitung "Hürriyet" berichtete auf ihrer Internetseite, ein Gericht in Istanbul habe einem Einspruch der Staatsanwaltschaft gegen ihre Freilassung stattgegeben.
Sie waren am 5. Juli zusammen mit sechs weiteren Teilnehmern eines Workshop zu IT-Sicherheit und Stressbewältigung wegen angeblicher Terrorunterstützung festgenommen worden, unter ihnen der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner und der türkischen Amnesty-International-Direktorin Idil Eser. Die Vierer-Gruppe kam am Dienstag zunächst wieder auf freien Fuß, während die sechs anderen in Gewahrsam blieben. In der Türkei sitzen nach Angaben des Auswärtigen Amtes neun Deutsche in Haft, darunter vier Deutsch-Türken
cw/stu (afp, dpa, rtr)