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Löw - zu viel Planung, zu wenig Überraschung

16. Juni 2021

Der EM-Auftakt der deutschen Nationalmannschaft gegen Frankreich ging schief. Bundestrainer Joachim Löw hinterlässt bei seiner taktischen Herangehensweise einige Fragen - wie schon so häufig in der Vergangenheit.

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Deutschland München | UEFA Euro 2020 | Frankreich v Deutschland | Joachim Löw
Bild: Kai Pfaffenbach/REUTERS

Marcus Sorg kramte nochmal schnell seine Taktik-Folien heraus. Der Co-Trainer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gab den Einwechselspielern letzte Instruktionen, wie sie ihre Rollen gleich interpretieren sollten. Allerdings dürften sich Emre Can und auch Kevin Volland darüber gewundert haben. Denn es lief bereits die 87. Minute, und die DFB-Elf lag gegen Frankreich zum EM-Auftakt mit 0:1 zurück. Gerade der körperlich robuste Volland, designierter Angreifer, dürfte damit gerechnet haben, möglichst schnell in die Sturmspitze zu rücken und noch irgendwie für Torgefahr und idealerweise für ein Last-Minute-Tor zu sorgen - wie es in der Fußball-Geschichte schon so häufig passiert ist. 

Am Ende fand sich Stürmer Volland allerdings auf der linken Seite wieder, eingewechselt für den eher defensiv orientierten Robin Gosens. Wohl aufgrund der unerwarteten und ungewohnten Position bedurfte es von Seiten der Trainer noch einer so späten taktischen Einweisung für den 28 Jahre alten Angreifer der AS Monaco. Anstatt sich körperlich im Zentrum durchzusetzen, wie er es seit vielen Jahren gewohnt ist, sollte Volland versuchen, Flanken in die Mitte zu schlagen. Welcher Spieler diese in der Mitte dann allerdings verwerten sollte, blieb indes - wie im gesamten Spiel - offen. Eine Einwechslung, die in ihrer Wirkung vollständig verpuffte.   

Löw schaut schwachem Havertz zu

Joachim Löw ist in seinen rund 15 Jahren als Chefcoach der deutschen Nationalmannschaft nicht gerade dafür bekannt geworden, dass er Spiele durch Einwechslungen positiv beeinflusst - mit Ausnahme des WM-Finals 2014, als er den späteren Siegtorschützen Mario Götze brachte. Löw besitzt vielmehr eine Eigenschaft, die für einen Teil der Spieler von großem Vorteil ist. Diejenigen, denen er fußballerisch vertraut, können sich darauf verlassen, dass sie bei Löw auf (zu) große Geduld hoffen können. So wie diesmal Kai Havertz. Der 22-Jährige, der Ende Mai noch den FC Chelsea zum Champions-League-Titel geschossen hatte, erwischte am Dienstagabend in München auf der rechten offensiven Seite keinen guten Tag, wirkte vor allem in der ersten Hälfte fast lethargisch.

Kai Havertz (r.) bleibt gegen Frankreich bei seinem ersten EM-Spiel äußerst blass.
Kai Havertz (r.) bleibt gegen Frankreich bei seinem ersten EM-Spiel äußerst blass.Bild: Kai Pfaffenbach/REUTERS

Und damit kommen wir zu der Eigenschaft Löws, die manch ein Spieler eher nicht befürworten dürfte: Wem der Bundestrainer nicht richtig vertraut, der hat es äußerst schwer bei ihm. So wie Leroy Sané, die Alternative für Havertz. Erst nach 74 fast desolaten Minuten des Ex-Leverkuseners bekam Sané seine kurze Chance. Löw hofft scheinbar immer darauf, dass sich alles zum Guten wendet. Er ließ Havertz deshalb viel zu lange gewähren, was dem deutschen Angriffsspiel nicht gerade gut tat. Sané ist ein schneller, dribbelstarker Spieler, der überraschende Sololäufe oft paart mit überhasteten Aktionen. Löw lässt dagegen lieber Fußball vom Reißbrett spielen, mit klarem Positionsspiel sowie klarer Grundordnung. Alles andere scheint ihm eher suspekt zu sein, was er bei seinem Zögern mit der Auswechslung wieder einmal unterstrich.    

So vorausgeplant lässt sich auch die defensive Zentrale der DFB-Elf charakterisieren. Mit Ilkay Gündogan und Toni Kroos stehen Löw dort zwei Mittelfeldspieler von höchstem internationalen Format zur Verfügung. Allerdings sind sich beide in ihrer Spielweise sehr ähnlich: Hohe Ball- und Passsicherheit, überdurchschnittliche Spielübersicht und ausgeprägte Führungsqualitäten zeichnen sie vor allem aus. Wofür beide eher nicht stehen, sind Dynamik, Zweikampfstärke und Aggressivität. Gegen die Franzosen neigten beide dazu, das Tempo des Spiels eher zu verschleppen, viele Ballkontakte zu haben, anstatt die wenigen Umschaltmomente zu nutzen. Es fehlte ein Spieler mit dem Impuls, mit unbedingtem Willen und vollem Körpereinsatz das Spiel voranzutreiben - so wie Joshua Kimmich es könnte und eine passende Ergänzung zu Kroos und Gündogan in der Zentrale wäre. Doch Kimmich blieb als von Löw eingesetzter rechter Verteidiger weit hinter seinen Möglichkeiten. Unter diesem Mangel litt das kaum vorhandene deutsche Offensivspiel immens.    

Stoßstürmer verhindert

Im Sturmzentrum findet sich derzeit kein gelernter Mittelstürmer wie einst Uwe Seeler, Gerd Müller, Horst Hrubesch, Jürgen Klinsmann oder Miroslav Klose. Löw ist mit dafür verantwortlich, dass im deutschen Profifußball in den letzten Jahren klassische Stoßstürmer eher schief angesehen und frühzeitig aus den Talent-Lehrgängen aussortiert wurden. Er hat die Ausbildungsziele als oberster Fußballtrainer Deutschlands mit zu verantworten. Löws fast ausschließlicher Hang zu schnellen Spielern, die vor allem die tiefen Räume suchen, fällt ihm nun schmerzhaft auf die Füße.  

Italiens Mario Balotelli (r.) beendet bei der EM 2012 Deutschlands EM-Traum im Halbfinale
Italiens Mario Balotelli (r.) beendet bei der EM 2012 Deutschlands EM-Traum im HalbfinaleBild: picture-alliance/dpa

Joachim Löw schaute dem Treiben seiner Spieler gegen Frankreich wieder einmal zu, ohne einzugreifen. So war es einst bei der EM 2012 beim Ausscheiden im Halbfinale gegen Italien. So war es während der gesamten, desaströsen Vorrunde der WM 2018 in Russland. Am Samstag - erneut in München (18 Uhr MESZ) - muss die DFB-Elf gegen Portugal zum ersten "Endspiel" antreten, um noch das Achtelfinale zu erreichen. Ein Sieg gegen den Europameister, der anders als die Franzosen auf viel Ballbesitz aus ist, ist fast schon Pflicht. Vielleicht setzt der Bundestrainer in dieser Partie mal auf einen Überraschungseffekt und legt weniger Wert auf Planspiele.