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Bücher für die Front

Patricia Dolata/dk9. Oktober 2002

Ein protestantischer Provinzverlag war C. Bertelsmann noch in den 30er Jahren, der Gemeinden und Familien mit sogenannten erbaulichen Heften versorgte. In der NS-Zeit schlug dann die große Stunde des Medienunternehmens.

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Hätte besser den Mund gehalten: Ex-Bertelsmann-Chef MiddelhoffBild: AP

Es hörte sich alles so schön an in der Jubiläumsschrift 1985 zum 150jährigen Bestehen des Bertelsmann-Konzerns: Bertelsmann, ein christlich-theologischer Familienbetrieb, während der NS-Zeit ein Widerstands-Verlag, der den Nationalsozialisten wegen seiner Nähe zu regimekritischen Kirchenkreisen von Anfang an ein Dorn im Auge gewesen und schließlich 1944 aus politischen Gründen geschlossen worden sei.
Darum erhielt Heinrich Mohn, Vater des heute noch die Geschäfte führenden Reinhard Mohn, 1947 von den britischen Besatzungsbehörden die Verlagslizenz zurück.

Guenther Thielen Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann AG
Guenter Thielen headshot, as Bertelsmann AG board memberBild: AP

Gütersloher Erklärungsnot und ein Düsseldorfer Journalist

Unseligerweise wiederholte 1998 der damalige Vorstandsvorsitzende Thomas Middelhoff diese Selbstdarstellung der Unternehmensgeschichte im Dritten Reich vor der Öffentlichkeit, als Bertelsmann durch die Übernahme des Verlagshauses Random House in den USA gerade zum größten amerikanischen Verleger und weltweit zu einem der mächtigsten Medienunternehmen aufgestiegen war. Der Düsseldorfer Journalist Hersch Fischler meldete Zweifel an der historischen Deutung Middelhoffs an und brachte Bertelsmann in Erklärungsnot.
Nachdem eine verlagsinterne Klärung nicht zustande kam, sah sich das Unternehmen genötigt, seine Archive zu öffnen und die Firmengeschichte von der "Unabhängigen Historischen Kommission" erforschen zu lassen. Nach mehr als drei Jahren haben die Historiker ihre Untersuchungsarbeit nun abgeschlossen und legten in München ihre Ergebnisse vor.

Die Wehrmachtsausgaben: Lizenz zum Gelddrucken

19 Millionen Bücher für Wehrmachtssoldaten druckte Bertelsmann demnach im Dritten Reich. Das war rund ein Viertel all der kleinen handlichen Bände, die sich an die Front mitnehmen und verschicken ließen: von Klassikern über triviale Unterhaltung bis hin zu handfester Kriegspropaganda. Selbst rein nationalsozialistische Verlage wie der Eher-Verlag, der exklusiv Hitlers "Mein Kampf" druckte, kamen nicht auf solche Zahlen.

Das Geheimnis des enormen wirtschaftlichen Erfolgs von Bertelsmann: Verleger Heinrich Mohns Gespür für den Markt, wie er es nach Kriegsende erneut mit dem Lesekreis, der Buchklub-Idee bewies, sagt Saul Friedländer, Geschichtsprofessor an den Universitäten von Tel Aviv und Kalifornien, der den Vorsitz der Unabhängigen Kommission zur Erforschung der Geschichte des Hauses Bertelsmann im Dritten Reich übernommen hat. Er widerlegt die Legende vom Widerstandsverlag Bertelsmann. "Die Produktion antisemitischer Belletristik lief bis Kriegsende weiter, also auch noch in der Zeit, in der man, wie unsere Quellen belegen, auch in der westfälischen Provinz von den Judenvernichtungen im Osten wissen konnte und auch wusste" widerlegt er die Legende um Bertelsmann.
Die extremsten Texte die Bertelsmann in den letzten Kriegsjahren veröffentlichte, standen in ihrem Antisemitismus nationalsozialistischen Propagandapublikationen nicht nach, stellt Friedländer fest.

Zwar wurde der Bertelsmann Verlag 1944 tatsächlich stillgelegt und durfte keine neuen Publikationen mehr auf den Markt bringen, die verlagseigene Druckerei aber konnte weiterarbeiten und somit für kriegswichtig erachtete Titel wie "Flieger am Feind" bis 1945 ausliefern.

Ein "ganz normaler" Betrieb im Dritten Reich

Als Fazit ihrer nun in zwei Bänden vorliegenden Forschungsarbeit kommt die Unabhängige Untersuchungskommission zu dem Schluss, Bertelsmann habe vom Kriegsgeschäft profitiert wie kein anderer deutscher Verlag. Verleger Heinrich Mohn habe moralisch versagt, sich allein aus unternehmerischem Kalkül in Inhalt und Form der Wehrmacht angebiedert und sich auch nicht gescheut, wenn auch in sehr geringem Umfang, Zwangsarbeiter zu beschäftigen.

Reinhard Mohn
Reinhard Mohn, founder of the Bertelsmann foundation during his speech at the celebrations of the 25th anniversary of the foundation in the German town of Guetersloh on Wednesday, March13, 2002. (AP Photo/Michael Sohn) (Photo für Kalenderblatt)Bild: AP

Der Vorstandsvorsitzende Gunter Thielen enschuldigte sich im Namen von Bertelsmann: "Ich bedauere, dass die frühere Darstellung erhebliche Lücken und Fehler enthielt. Ich bedaure außerdem die Tatsache, dass wir im zweiten Weltkrieg mit Büchern Geschäfte gemacht haben, die mit den Werten des Medienunternehmens Bertelsmann vollkommen unvereinbar waren."

Öffentliche Aufarbeitung im Gange

Das historische Firmenarchiv von Bertelsmann ist jetzt, zunächst in München in den Räumen der Unabhängigen Kommission, und ab Frühjahr 2003 in Gütersloh, für jeden öffentlich zugänglich. Bertelsmann hat am Unternehmenssitz zudem eine Gesprächsreihe mit Zeitzeugen sowie die weitere Erforschung der Firmengeschichte angekündigt, inwieweit etwa die Kriegsgewinne dem neuerlichen Aufschwung von Bertelsmann nach 1945 zugute kamen. Zum alleinigen Sündenbock eigne sich Bertelsmann jedoch nicht, gibt Historiker Reinhard Wittmann zu bedenken: "Ein vergleichbares Verhalten im deutschen Verlagsbuchhandel der NS-Zeit scheint eher die Regel als die Ausnahme gewesen sein. Für die Forschung gibt es hier noch sehr viel zu tun."