"Frau Merkel ist mir da zu soft"
19. Juli 2017Die Sanktionen gegen Russland in der Ukraine-Krise "müssten verschärft werden", fordert Cem Özdemir in einem von außenpolitischen Themen geprägten 30-minütigen Interview. Die Lage in der östlichen Ukraine eskaliere derzeit: "Von daher sehe ich keinen Anlass, die Sanktionen aufzuheben."
Schnell kamen DW-Chefredakteurin Ines Pohl und Co-Moderator Jaafar Abdul Karim auf ein anderes Thema zu sprechen, das viele mit Özdemir auch wegen seiner Selbstbeschreibung als "anatolischer Schwabe" verbinden. Seine Eltern kamen aus der Türkei nach Deutschland. Im deutsch-türkischen Streit um das Besuchsrecht von Abgeordneten auf dem Nato-Stützpunkt Konya verhalte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan "nicht Nato-konform, sondern wie ein Schläger in der Kneipe", sagte Özdemir und forderte eine klare Antwort aus Brüssel vom Nato-Hauptquartier. Dieser Streit sei keiner zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und Erdogan, sondern zwischen der Nato und der Türkei.
Und wie würde Özdemir weiter verfahren in den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei? "Die würde ich da lassen, wo sie sind, ganz hinten im Kühlregal". Sollte die Türkei die Todesstrafe einführen, sagte er: "Dann sind sie komplett abgebrochen. Dann müsste die Türkei den Europarat verlassen."
"Da ist mir Deutschland ein bisschen zu naiv"
Was müsste bei der Integration besser laufen und was würden die Grünen in einer Regierung anders machen, fragte Abdul Karim, der in seiner arabischen DW-Talkshow "Shabab-Talk" oft heikle Themen anspricht. Jeder Versuch, "in Deutschland eine Art Parallelstaat" zu errichten, müsse unterbunden werden, forderte Özdemir. Zu ihm kämen viele Oppositionelle, die Angst hätten, dass sie in Deutschland nicht geschützt werden. "Ich finde, da muss es eine glasklare Antwort geben, dass wir das hier nicht dulden", sagte Özdemir: "Da ist mir Deutschland ein bisschen zu naiv".
In diesem Zusammenhang kritisiert er Merkel als zu "soft". In den Vorständen von Moscheen würden "die integrationswilligen Leute" abgezogen, "ersetzt durch Leute, die ihre Befehle aus Ankara empfangen". Das gehe nicht, betonte Özdemir: "Erdogan will auch in Deutschland die Türkei errichten." Der Grünen-Chef forderte: "Kein Geld mehr in Zukunft aus der Türkei für Moscheen hier."
Es gebe nun einmal Staaten wie die Türkei - oder auch Russland unter Wladimir Putin, "die wollen ganz bewusst, dass sich ihre Bürger hier nicht integrieren".
Einen anderen Ansatzpunkt, Erdogans Politik etwas entgegen und ihn unter Druck zu setzen, sieht Özdemir in einer anderen Investitionspolitik. Erdogan bettele im Ausland um Geld, aber für deutsche Unternehmen müsse klar sein, die Türkei sei "kein sicherer Standort für Investitionen, da keine Rechtssicherheit herrscht".
Kritik an Merkels Türkei-Politik
Rückblickend sieht Özdemir die deutsche Türkei-Politik der Merkel-Jahre seit 2005 sehr kritisch. Die Vorgängerregierung aus SPD und Grünen habe die Reformkräfte in der Türkei unterstützt. Als Merkel dann aber eine privilegierte Partnerschaft in der EU-Beitrittsfrage ins Gespräch brachte, habe sie dazu beigetragen, dass die Reformkräfte in der Türkei nicht weiter gestärkt worden seien.
In der Flüchtlingskrise ab 2015 sei die Kanzlerin dann gefühlt jeden zweiten Tag bei Erdogan gewesen, um den EU-Türkei-Pakt auf den Weg zu bringen. Da habe sich Erdogan als wichtiger Weltpolitiker gefühlt. Bestraft im falschen Moment und belohnt bei der falschen Sache, so fasste Özdemir seine Sicht auf Merkels Fehler zusammen.
"Deutschland nicht Weltmeister beim Klimaschutz"
Die Grünen könnten zusammen mit Angela Merkel - und wahrscheinlich der liberalen FDP - nach der Bundestagswahl am 24. September eine gemeinsame Regierung bilden. Was könnte der Hauptbeitrag der Grünen in einer solchen Koalition sein? "Deutschland ist leider nicht Weltmeister beim Klimaschutz", kritisierte Özdemir die Politik der Regierung Merkel.
Bei den Überschriften sei die Bundeskanzlerin Weltmeister und im Vergleich zu US-Präsident Donald Trump sicher "eine Lichtgestalt". Aber sobald man an der Oberfläche kratze, sei vieles nicht mehr Weltklasse. "Deutschland aber kann es besser", betonte Özdemir. Man müsse zeigen, dass zwischen Ökologie und Ökonomie kein "oder" sondern ein "und" stehen könne.
"Daran werde ich mich noch auf dem Sterbebett erinnern"
Der jetzt 51-jährige Cem Özdemir gehörte in den frühen 1970er-Jahren zu den ersten Migrantenkindern in deutschen Schulen. Er selbst habe ebenso wie ein Kind portugiesischer Einwanderer ganz hinten auf der letzten Schulbank sitzen müssen, erzählte Özdemir. Als er in der vierten Klasse gefragt wurde, wer aufs Gymnasium wolle, hob er die Hand. An die Reaktion im Klassenraum werde er sich noch auf dem Sterbebett erinnern, sagte er. Der Lehrer und seine Mitschüler hätten einen Lachkrampf bekommen - dass einer wie er Abitur machen wolle.
Doch Özdemir hat diese bitteren Erfahrungen überwunden. Daraus entwickelte sich sein starker Ehrgeiz, erzählt er. Immer dann, wenn ihm andere etwas nicht zutrauen wollten: 1994 etwa, als er als erster Abgeordneter mit türkischen Wurzeln für die Grünen in den Bundestag einzog.
Das Abitur hat der gelernte Erzieher dann allerdings nicht machen können. Wenn andere im Urlaub unterhaltsame Romane lesen, habe er Goethes "Faust" im Reisegepäck, um Bildungslücken zu schließen, berichtet er. Könnte ihm der gelernte Buchhändler Martin Schulz dabei helfen? Den SPD-Chef jedenfalls wählte Cem Özdemir als Wunschpartner für eine einsame Insel aus, als er sich im DW-Sommerinterview einen der anderen Spitzenkandidaten aussuchen musste. Martin Schulz könne ihm dann wohl von tollen Büchern erzählen.
Ob auch Martin Schulz den Grünen-Chef mit auf die Insel nehmen würde, wird sich in den nächsten Wochen klären. Dann wird nämlich auch der SPD-Spitzenkandidat zu Gast bei der DW sein.