Schmerzhafte Abrüstung
20. April 2007Die halbe Nacht habe sie wach gelegen, erzählt die Rentnerin Ljudmila Jarullina, während sie in ihrer Küche Tee serviert. Sie ist eine schlanke elegante Frau, trägt ihr weißes Haar kurz und enge schwarze Kleidung. In der linken Hand zerknüllt sie ein kariertes Stofftaschentuch. Das sei nun schon seit einigen Tagen so. Man hört, dass ihre Nase verstopft ist. "Morgens bekomme ich die Nase nur unter Schmerzen frei."
Schuld an ihren Atemwegsbeschwerden sei, so die Rentnerin, die Kirov-Fabrik. Die befindet sich nur wenige Kilometer entfernt von dem Wohngebiet, in dem Ljudmila Jarullina lebt, am Stadtrand von Perm. Dort werden sowjetische Interkontinentalraketen vom Typ RS 22 verschrottet, die auch "Skalpell" genannt werden. Die Raketen werden einfach verbrannt. Umweltexperten meinen, dass dabei giftige Dioxine freigesetzt werden. Die Behörden streiten das ab.
Der Allergologe hat keine Allergien bei Ljudmila Jarullina entdeckt. "Er sagte, dass meine Beschwerden wahrscheinlich von der chemieverseuchten Luft kommen", erzählt sie. Die Fabrikleitung solle veröffentlichen, an welchen Tagen sie Raketen verbrannt habe. Immerhin habe sie nichts zu befürchten, wenn sie unschuldig sei, findet Jarullina. Doch auf diese Informationen wartet sie vergeblich.
Abrüstungsverträge mit den USA
Die Demontage der Raketen geht auf Abrüstungsverträge zurück, die die Sowjetunion in den 1980-er Jahren mit den USA abgeschlossen hat. Menschenrechtsaktivisten haben recherchiert, dass insgesamt mehr als 50 dieser bis zu 50 Tonnen schweren Kolosse bei Perm verbrannt werden sollen. Etwa die Hälfte soll schon vernichtet worden sein. Gesicherte Informationen sind das nicht. Die russischen Behörden hüllen sich in Schweigen und verweisen auf das Militärgeheimnis.
Nach Klagen von Anwohnern haben mehrere Permer Gerichte festgestellt, dass die Fabrik gegen geltendes russisches Recht verstößt. Denn sie hat keine Umweltgutachten und keine Genehmigung für die Abgabe von Umweltschadstoffen eingeholt. Beides ist in Russland gesetzlich vorgeschrieben. Die Fabrik macht trotz der Gerichtsurteile weiter.
Investitionen müssen sich lohnen
In der Gebietsverwaltung von Perm sitzt der Beamte Michail Antonov am Kopf eines langen Tisches in seinem Büro. Er ist stellvertretender Gouverneur in der Region und zuständig für Wirtschaftsfragen. Über die Gerichtsurteile will er nicht reden. Stattdessen verweist er auf die katastrophale Wirtschaftslage vor ein paar Jahren, als das Projekt begann. "Die Raketenverschrottung war damals vermutlich das einzige Projekt, das Geld brachte. Jetzt wollen die Verantwortlichen natürlich, dass sich ihre Investitionen amortisieren", so Antonov. Die Menschen in Perm müssten ausbaden, was ihnen die Sowjetunion in den 80er-Jahren eingebrockt habe, sagt ein anderer Mitarbeiter der Gebietsverwaltung, der nicht genannt werden will.
Umweltaktivist identifiziert drei Schuldige
Der Umweltaktivist Roman Juschkov sitzt spät abends im Büro der Permer Kammer für Menschenrechte. Um seinen Hals baumelt ein Brustbeutel mit dem Porträt Che Guevaras. Juschkov kämpft seit Jahren gegen die Raketenverschrottung. "Die Angelegenheit mit den Raketen ist leider bezeichnend für das gesamte Leben in Russland. Gesetze werden bei uns nur dann befolgt, wenn das bestimmten Leuten nützt: den Leuten aus Politik und Wirtschaft", so Juschkov. Er fordert, dass die Fabrik eine sichere Technologie anwenden solle oder, falls dies nicht möglich sei, ihren Standort in eine andere Gegend verlagere, weit weg von Wohngebieten.
Aufgrund solcher Forderungen wird Juschkov unter Druck gesetzt und als "amerikanischer Spion" verunglimpft. Juschkov findet das lächerlich. Er hält die US-Regierung für mit verantwortlich, weil sie das gesetzwidrige Programm finanziere. Außerdem trage die Regierung in Moskau Schuld, weil sie dieses Abrüstungsprogramm umsetze, obwohl sie wisse, dass das vorgeschriebene Umweltgutachten nicht erstellt wurde. Und zuletzt seien auch die Beamten in Perm schuld, die nach dieser Pfeife tanzen würden und denen nicht mal in den Sinn komme, dass sie die Bevölkerung hier schützen müssten vor so viel Willkür und riskanten Abenteuern.