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China sucht die Omikron-Strategie

21. Januar 2022

Kurz vor Olympia in Peking häufen sich in China Omikron-Ausbrüche. Die Führung weiß, dass ihr bisheriges Corona-Management auf dem Prüfstand steht. Bei einem Scheitern wären die Folgen gewaltig und weltweit zu spüren.

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Eine Person in voller Schutzkleidung nimmt einen Rachenabstrich bei einem jungen Mann
Treten nur einige wenige Corona-Fälle auf, kommt es in China in der Regel zu MassentestungenBild: Shao Rui/Xinhua News Agency/picture alliance

Der neue Ansatz hört auf den Namen Dynamic Clearing. Mit diesem Schlagwort umschreiben Chinas staatliche Pandemie-Manager mittlerweile ihr Vorgehen bei der Eindämmung regionaler Corona-Ausbrüche. Was sich im Deutschen etwa mit "energischer Beseitigung" übersetzen lässt, könnte nach Einschätzung von China-Beobachtern einen möglichen Schwenk in Pekings Corona-Politik ankündigen.

Denn die Führung in Peking weiß, dass bei einem Scheitern ihres Pandemie-Managements soziale und wirtschaftliche Verwerfungen drohen - nicht nur im Reich der Mitte, sondern weltweit. Gestörte Lieferketten würden durch immer neue Lockdowns in China zum Dauerzustand werden, ein sinkender Binnenkonsum würde das Wirtschaftswachstum in der Volksrepublik weiter nach unten drücken. Für enge Handelspartner wie Deutschland ein Horror-Szenario.

Beispiel Xian

Einen Vorgeschmack bekam Chinas Führung, als wütende Einwohner der zentralchinesischen Metropole Xian die knallharten Lockdown-Maßnahmen der Behörden in den sozialen Netzwerken anprangerten. Es habe Engpässe bei der Lebensmittelversorgung der Menschen in häuslicher Quarantäne gegeben, die noch nicht einmal zum Einkaufen ihre Wohnblocks verlassen durften. Außerdem wurden Vorwürfe laut, selbst hochschwangere Frauen seien von Krankenhäusern in Xian abgewiesen worden und hätten deswegen Fehlgeburten erlitten.

China - Coronavirus - Ausgangssperre
Xian: Ausgangssperre für 13 Millionen Menschen - trotz einer nur dreistelligen Zahl von Infektionen Bild: Shao Rui/Xinhua/AP/dpa/picture alliance

"Neues Narrativ"

"China hat damit begonnen, das Narrativ neu zu schreiben", sagt Shuli Ren, die als Finanzmarkt-Expertin und Publizistin in Hongkong das Geschehen auf dem chinesischen Festland analysiert. In einer Kolumne für den Finanznachrichten-Dienstleister Bloomberg bringt sie die neue Stoßrichtung auf den Punkt: "Die Zero-Covid-Strategie in China ist ein Hirngespinst. Jetzt geht es nur noch um 'Dynamic Clearing'." Weil die Olympischen Spiele in wenigen Wochen beginnen, verlagere Peking die Verantwortung für die Eindämmung des Virus stärker in die Hände der lokalen Behörden, unterstreicht die frühere Investment-Bankerin.

Der Vorteil für die Staats- und Parteiführung liege dabei auf der Hand, so Shuli Ren. Im Rest des Landes könne dann das Leben und die Wirtschaft weiterlaufen. Und falls es Probleme bei der Versorgung der Menschen in Quarantäne mit Lebensmitteln geben sollte wie in Xian, schiebe man die Schuld den lokalen Entscheidern in die Schuhe und tausche sie gegebenenfalls aus.

Omikron beschäftigt Chinas Pandemie-Manager

Bereits Mitte Dezember, nur wenige Wochen nach der Entdeckung der besonders ansteckenden Omikron-Variante in Südafrika, umschrieb Liang Wannian, einer der führenden Beamten für die Corona-Eindämmung in China, in einer Pressekonferenz den Ansatz des Dynamic Clearing: "Wir sind noch nicht in der Lage, das Auftreten lokaler Fälle zu verhindern, aber wir haben die Fähigkeit und die Zuversicht, eine Epidemie schnell zu beenden, wenn ein lokaler Fall auftritt (…) Es geht nicht um das Streben nach 'Null-Infektionen', sondern darum, Ausbrüche so schnell wie möglich zu beseitigen."

Lockdowns als Gift für den privaten Konsum

Wie stark die Staats- und Parteiführung seit der Ankunft von Omikron in China unter Druck steht, zeigen die Aufforderungen der Behörden zu mehr privatem Konsum. In den so genannten Low-Risk-Zonen sollen Chinas Bürger während der wochenlangen Feierlichkeiten für das chinesische Neujahrsfest einkaufen, essen gehen und Geld ausgeben. Und wo das wegen der aktuellen Corona-Situation nicht möglich ist, solle man online shoppen gehen oder den ein oder anderen Yuan in Chinas Online-Casinos ausgeben, so der Appell an die Bürger.

Der Aufruf zeigt, wie nervös die Entscheider in Peking sind, nachdem zuletzt der private Konsum in China deutlich zurückgegangen war - besonders dort, wo harte Eindämmungsmaßnahmen gegen Corona-Ausbrüche verhängt wurden. Carlos Casanova, beim Genfer Vermögensverwalter Union Bancaire Privée (UBP) für die asiatischen Märkte zuständig, bringt es auf den Punkt: "Die Exporte werden Chinas Wirtschaft zwar weiter stabilisieren. Es wird aber sehr schwer werden, den privaten Konsum anzukurbeln, solange man am Zero-Covid-Ansatz festhält."

"Größter Bremsklotz für Chinas Wirtschaft"

Man dürfe nicht vergessen, dass Metropolen wie Xian, Tianjin oder Shanghai mit zusammen mindestens 50 Millionen Einwohnern und ihrer überdurchschnittlichen Kaufkraft wichtige Zentren des privaten Konsums seien, unterstreicht der UBP-Experte im Interview mit Bloomberg TV.

Casanova geht davon aus, dass sich auch deshalb das Wirtschaftswachstum in China im ersten Quartal 2022 auf nur noch drei Prozent im Vergleich zum Vorjahr abkühlen wird. Im Vergleich zu den zweistelligen Wachstumsraten der Boomjahre Chinas wäre das für viele Menschen nicht nur enttäuschend, sondern auch eine Ohrfeige für das Wohlstandsversprechen der Kommunistischen Partei, mit der sie auch in Krisenzeiten die große Mehrheit der Chinesen hinter sich scharen kann.

China Peking | Geschäftsfront
Corona-Maßnahmen dämpfen auch in China den privaten Konsum Bild: JADE GAO/AFP/Getty Images

Das Festhalten an der Zero-Covid-Politik werde 2022 "mit Sicherheit der entscheidende Bremsklotz" für Chinas Konjunktur sein, ist Casanova überzeugt. Dazu komme noch die schlechte Stimmung, die vom angeschlagenen Immobiliensektor ausgeht und weitere drohende Eingriffe der Staats- und Parteiführung in die Privatwirtschaft, wie Peking sie im Hightech-Bereich bereits durchgesetzt hat.

Geringe Wirksamkeit chinesischer Impfstoffe gegen Omikron

Mittlerweile wird auch in China darüber diskutiert, dass die im Land entwickelten Impfstoffe nur wenig wirksam gegen die Omikron-Variante sind. Das räumt selbst Gao Fu, Leiter des chinesischen Zentrum für Seuchenkontrolle und Prävention, ein: "Unsere Impfstoffe wirken zwar gegen Omikron, aber ihre Wirksamkeit ist stark eingeschränkt."

Chinas Pandemie-Bekämpfer stecken damit in der Zwickmühle. Durch die bisherige Zero-Covid-Politik haben sich nur sehr wenige Chinesen mit dem Coronavirus infiziert. Und so besitzt der Großteil der 1,4 Milliarden Bürger der Volksrepublik praktisch keine Immunität gegen die Omikron-Variante, die den Schutz der chinesischen Vakzine unterlaufen kann.

China | Coronavirus | Präsident Xi Jinping
Wie schafft Xi Jinping den Kurswechsel im Pandemie-Management? Bild: Li Xueren/Xinhua/imago images

Das Urteil der Analysten der Eurasia Group, einem New Yorker Think Tank, der die Wall Street berät und jedes Jahr im Januar die zehn größten Risiken für die Weltwirtschaft auflistet, fällt dem entsprechend eindeutig aus: "Zwei Jahre nach dem Beginn der Ausbreitung des Virus in China richtet das Virus weiterhin verheerende Schäden an (...) und aus der erfolgreichsten Politik im Kampf gegen das Virus ist die am wenigsten erfolgreiche geworden."

Über eine Milliarde Chinesen ohne Omikron-Immunschutz?

Damit zerplatzt auch das Narrativ der Führung um Xi Jinping, Chinas Pandemie-Management sei dem des Westens überlegen, wie eine Seifenblase.

Jetzt zugeben zu müssen, dass man nur mit Hilfe der mRNA-Impfstoffe von BioNTech/Pfizer oder Moderna mit der Omikron-Variante fertig wird, wäre für Chinas Führung ein schwerwiegender Gesichtsverlust - und für asiatische Verhältnisse die Höchststrafe.

"China befindet sich in einer extrem schwierigen Lage wegen seiner Null-Covid-Politik, die im Jahr 2020 unglaublich erfolgreich schien", schreiben die Eurasia-Experten. Mittlerweile sei diese Politik gegen eine viel ansteckendere Variante aber nur noch begrenzt wirksam, trotz immer schärferer Lockdown-Maßnahmen und einer hohen Impfrate. Dazu komme, dass die Bevölkerung "praktisch keine Antikörper gegen Omikron" habe. Das sei das Gegenteil von dem, was Präsident Xi sich für sein Land im Vorfeld seiner dritten Amtszeit wünscht, schreiben die New Yorker Analysten. "Aber er kann nichts dagegen tun: Der anfängliche Erfolg von Zero Covid und Xis persönliche Rolle dabei machen es unmöglich, den Kurs zu ändern."

Thailand - Impfstoff gegen Covid-19
In China undenkbar: Einsatz des BioNTech/Pfizer-Impfstoffs in Bangkok Bild: Vichan Poti/picture alliance/Pacific Press

China-Beobachter Thomas Hale glaubt nicht daran, dass es schon bald zu einem Kurswechsel kommen wird: "Die Erklärungen der Regierung seit dem Auftauchen von Omikron, in denen sie die derzeitige Strategie als Erfolg anpreist, lassen vermuten, dass der Zeitpunkt eines Abrückens vom Null-Covid-Ansatz nicht unmittelbar bevorsteht. Obwohl das in den chinesischen Medien diskutiert wird", erklärt der Politikwissenschaftler, der an der Universität Oxford lehrt.

Warten auf chinesischen mRNA-Impfstoff

Die Experten der Eurasia Group glauben, dass eine Abkehr von der Zero-Covid-Politik, die vor allem Staatschef Xi Jinping immer wieder als leuchtendes Beispiel für die Überlegenheit Chinas im Umgang mit der Pandemie angeführt hat, erst dann kommen wird, wenn in China entwickelte eigene mRNA-Impfstoffe zugelassen und verfügbar sind. "Dann wird man auch in China den Kurs ändern."

Thomas Hale von der Universität Oxford gibt allerdings zu bedenken, dass ein Kurswechsel der chinesischen Bevölkerung nicht so leicht zu vermitteln wäre: "Wenn es soweit ist, könnte der Übergang nicht einfach sein, denn die chinesische Gesellschaft hat sich an ein niedriges Infektions-Niveau gewöhnt."

Wann das von den Firmen Walvax Biotechnology und Suzhou Abogen Biosciences entwickelte mRNA-Vakzin eine Zulassung erhält, steht allerdings in den Sternen. Der Booster für Chinesen, die mit den Impfstoffen von Sinopharm und Sinovac immunisiert wurden, soll bislang erst an Mäusen getestet worden sein.

Realität überholt Strategie

Singapur, Neuseeland und Australien haben sich bereits vor Monaten von ihrer früheren Null-Covid-Politik verabschiedet. Wie wird sich China entscheiden? Bisher haben die staatlich gelenkten Medien berichtet, dass Omikron vor allem durch Reisende aus dem Ausland und sogar durch Postsendungen, etwa aus Kanada, eingeschleppt worden sei. Doch mittlerweile werden auch Fälle bekannt, die diese Theorie immer mehr in Frage stellen.

Je nachdem, wie stark die nächsten Omikron-Ausbrüche in China werden, wird sich entscheiden, wie es dort weiter geht. Und wie lange es dauern wird, bis sich die Menschen und die Führung in China fragen, ob die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten noch den Nutzen der bisherigen rigiden Eindämmungspolitik rechtfertigen. Spätestens nach den Olympischen Spielen wird sich zeigen, ob die Menschen dann noch glauben, dass sich das Reich der Mitte gegen Omikron abschotten kann.

Omikron bei Olympia

Thomas Kohlmann
Thomas Kohlmann Redakteur mit Blick auf globale Finanzmärkte, Welthandel und aufstrebende Volkswirtschaften.