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"Putins Macht fehlt Legitimation"

Zhanna Nemzowa (mo)23. November 2015

Manche Entwicklung in der russischen Gesellschaft überrascht Michail Chodorkowski. Im DW-Interview benennt der Putin-Kritiker die Hauptprobleme des russischen Staatswesens.

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Michail Chodorkowski (Foto: DW)
Bild: DW

Deutsche Welle: Herr Chodorkowski, früher waren Sie Geschäftsmann, jetzt engagieren Sie sich gesellschaftlich. Mit welchen Schwierigkeiten sehen Sie sich in Ihrem neuen Aufgabenbereich konfrontiert?

Michail Chodorkowski: Für mich war völlig überraschend, dass sich die Mentalität der russischen Gesellschaft mit Beginn des gesamten Ukraine-Dramas so radikal verändert hat. Ich hatte nicht gedacht, dass unsere Gesellschaft so sehr an dem "Weimar-Syndrom" leidet. Ich habe auch nicht damit gerechnet, dass gesellschaftliches Engagement so uneffektiv und unproduktiv sein kann und dabei intern so große Konkurrenz herrscht - sogar im Vergleich zur Geschäftswelt. Da, wo Gleichgesinnte wirken, so dachte ich, könnte es freundschaftlicher zugehen. Ich werde wohl noch häufiger mit etwas Nostalgie an die Jahre zurückdenken, die ich als Geschäftsmann verbracht habe.

Wissen Sie, wie im Kreml und in der Präsidialverwaltung Beschlüsse gefasst werden? Welche Rolle spielt dabei Wladimir Putin? Kann man Entscheidungen vorhersehen?

Man kann aus heutiger Sicht nicht jeden konkreten Schritt vorhersehen, aber die generelle Richtung schon. Hauptproblem des Staatswesens, das von Wladimir Putin aufgebaut wurde, ist das Fehlen jeglicher Legitimation der Macht - es gibt nur Putin selbst und seine Umfragewerte. Im Ergebnis orientiert sich die gesamte Armee der Staatsdiener an zwei Aspekten. Der erste ist das, was Putin sagt. Der zweite ist die eigene Tasche. Da Putin letztendlich auch nur ein Mensch ist und harte Arbeit nicht gewohnt, sind die Themen, mit denen er sich beschäftigt, begrenzt. Heute ist es eher die Außenpolitik. Inneren Angelegenheiten misst er weniger Gewicht zu. Folglich mutiert die Innenpolitik zu einem Kampf verschiedener Gruppen um die Pfründe. Dabei ist jedes Mittel recht. Die Regionalfürsten wollen das eine, die Vertreter von Armee und Geheimdiensten das ihre, die Unternehmer, darunter der innere Kreis um Putin, wieder etwas anderes. Im Rahmen dieses Kampfes um Ressourcen gestaltet sich die Innenpolitik. Das werden wir auch bei den Wahlen 2016 erleben. Bei den außenpolitischen Entscheidungen Putins müssen wir beachten, dass er kein strategisch denkender Mensch ist. Er bekommt Varianten serviert, wie man ein konkretes taktisches Ziel erreichen kann. Es ist eine einfache Rechnung. Putin trifft immer die Entscheidung, die ihm beim nächsten Schritt größeren Spielraum ermöglicht. Von diesem Algorithmus weicht er praktisch nie ab.

Wie bewerten Sie das Verhältnis zwischen dem Präsidenten der Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, und Putin? Welche Rolle spielt Kadyrow heute in der russischen Politik?

Ich glaube, dass Putin sehr genau weiß, dass ein System gegenseitiger Kontrolle der Verfassungsorgane notwendig ist. Aber da kein legales System von Checks und Balances besteht, wie es eigentlich in der Verfassung verankert ist, muss er ein Pseudosystem aufbauen. Und in diesem Pseudosystem hat natürlich Kadyrow mit seiner Bande eine ziemlich wichtige Stellung. Daher ist er nicht bereit, Kadyrow aus dem Spiel herauszunehmen und das in seinem Kopf errichtete System zu destabilisieren. Das sieht man beispielsweise an den Ermittlungen im Mordfall Boris Nemzow.

Michail Chodorkowski im Gespräch mit Zhanna Nemzowa (Foto: DW)
Michail Chodorkowski im Gespräch mit Zhanna NemzowaBild: DW

Wie sehen Sie Ihre eigene politische Zukunft?

Ich war und bin ein Mensch, der in der Lage ist, Entwicklungen in Russland zu beeinflussen. Ich hoffe, dass dies auch in Zukunft so bleibt.

Haben Sie selbst noch politische Ambitionen? Haben Sie irgendein langfristiges Ziel?

Ich sehe überhaupt keinen Zeitplan für die kommenden Veränderungen im politischen Leben Russlands. Ich habe bereits erwähnt, dass für mich 2022 (dann finden die übernächsten Präsidentschaftswahlen statt, bei denen Putin nicht mehr antreten dürfte; Anm. d. Redaktion) das Jahr wird, das womöglich Veränderungen bringt. Sie könnten aber auch früher oder, leider, auch später eintreten. Für mich, einen Leser und Verehrer des Schriftstellers Michail Bulgakow wäre es albern, konkrete persönliche Pläne für so eine ferne Zukunft zu schmieden. Wie war das bei Bulgakow: "Ja, Menschen sind nun mal sterblich, aber das allein wäre halb so schlimm. Wirklich übel ist nur, dass sie manchmal von jetzt auf gleich sterblich sind."

Wie bewerten Sie die Tatsache, dass Russland nicht bereit ist, Entschädigungs-Urteile internationaler Gerichte im Fall Yukos umzusetzen?

Ich wäre sehr überrascht, wenn die heutige russische Staatsmacht bereit wäre, etwas zu ihrem finanziellen Nachteil zu tun. Sie betrachtet den Staatshaushalt nicht als etwas, was im Dienst der Gesellschaft steht, sondern als etwas, was bereits in ihrer Tasche liegt. Und manchmal nimmt sie etwas aus dieser Tasche und verteilt es an die Bürger, damit diese den Mund halten. Und jetzt soll man den Feinden etwas abgeben? Damit die Feinde aufhören, Feinde zu sein? Nehmen wir mal an, die Machthaber in Russland kämen auf die Idee, das Gesetz zu befolgen und würden die Aktien zurückgeben, die sie völlig illegitim bei zehntausenden Aktionären beschlagnahmt haben, die ihre Aktien nicht bei Versteigerungen erworben haben. Übrigens, Versteigerungen in Bezug auf Yukos werden unerklärlicherweise als unrechtmäßig angesehen. Das Unternehmen existiert ja noch. Heute heißt es "Rosneft". Für den einfachen russischen Bürger würde sich nichts ändern. Ihm kann es egal sein, wem das eine oder das andere Aktienpaket gehört.

Haben die ehemaligen Yukos-Aktionäre keine Angst, wenn Eigentum des russischen Staates im Ausland konfisziert wird?

Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass einer meiner Kollegen vor irgendetwas Angst hat. Was mich selbst angeht, nach all dem, was ich im Gefängnis und noch vor der Haft durchgemacht habe, was soll ich jetzt noch fürchten? Mit einem lauten Knall umzufallen? Das hätten sie früher einfacher hinbekommen können. Das menschliche Gehirn stellt sich auf so etwas ein. Meine Kollegen wussten auch zu gut, dass sie jederzeit einem Attentat zum Opfer fallen können. Aber offensichtlich haben sie sich auch an diesen Gedanken gewöhnt.

Michail Chodorkowski, früherer Oligarch und Ex-Vorstandsvorsitzender des von den russischen Behörden aufgelösten Ölkonzerns Yukos, befand sich zwischen 2003 und 2013 in Russland in Haft. Verurteilt wurde er wegen Steuerhinterziehung und Betrug. Amnesty International betrachtete den Putin-Gegner als politischen Gefangenen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stufte hingegen im Jahr 2011 dessen Verurteilung als nicht politisch motiviert ein. Ende 2013 wurde Chodorkowski überraschend begnadigt, worauf er Russland verlassen konnte.

Das Gespräch führte Zhanna Nemzowa