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Chris Gueffroys tragischer Irrtum

5. Februar 2019

Wenige Meter trennen den Ost-Berliner vom freien Westteil, als ihn die Kugel mitten ins Herz trifft. Der 20-Jährige hatte bis zuletzt geglaubt, der Schießbefehl sei ausgesetzt worden. Ein fataler Irrtum.

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Mauer-Tote Chris Gueffroy
Bild: DW/Marcel Fürstenau

Wer hier eine Laube hat, darf sich glücklich schätzen. Im Sommer duftet es nach Rosen und Grillfleisch. Typische Kleingarten-Idylle. Die Kolonie "Harmonie" ist eine von rund 900 in Berlin. Vor 30 Jahren hat sie allerdings einen gravierenden Schönheitsfehler: die nur einen Steinwurf entfernte Mauer. Dahinter fließt ein schmaler Kanal, der den Britzer Hafen im Westen und die Spree im Osten miteinander verbindet. In dieser Gegend wollen sich zwei junge Männer am 5. Februar 1989 ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen: Freiheit.

Chris Gueffroy und sein Freund Christian verstecken sich in einem Geräteschuppen und blicken hinüber zu ihrem Sehnsuchtsort: West-Berlin. Kurz vor Mitternacht überwinden sie unentdeckt die gut drei Meter hohe Mauer auf östlicher Seite. Das nächste Hindernis, ein Metallzaun, ist genauso hoch. Ihm nähern sich die beiden kriechend. Plötzlich wird es laut und hell: Sirenen heulen, Scheinwerfer blinken. Anscheinend haben die Flüchtlinge einen Signalzaun berührt.

Der Schießbefehl wird erst zwei Monate später ausgesetzt

Stele für Chris Gueffroy, den letzten Mauertoten in Berlin
Mit einer Stele wird in Berlin an Chris Gueffroy erinnertBild: picture-alliance/T. Rückreis

Dass ihr Leben in höchster Gefahr ist, glauben sie trotzdem nicht. Denn Freunde haben ihnen erzählt, der Schießbefehl sei ausgesetzt – weil der schwedische Regierungschef auf Staatsbesuch in der DDR weilt. Sollte die Flucht scheitern, würde man sie bald in den Westen abschieben. Darauf spekulieren die beiden – und erliegen einem für Chris Gueffroy tödlichen Irrtum. Denn Grenzsoldaten eröffnen das Feuer, eine Kugel durchbohrt das Herz des 20-jährigen Kellners. Sein Tod löst internationale Proteste aus. Anfang April 1989, sieben Monate vor dem Mauerfall, ordnet DDR-Staatschef Erich Honecker an, nicht mehr auf Flüchtlinge zu schießen.  

Chris Gueffroy ist der letzte erschossene Mauertote. Einen Monat später, am 8. März 1989, kommt Winfried Freudenberg ums Leben. Der 32-Jährige stürzt mit seinem selbstgebauten Heißluftballon an der Berliner Stadtgrenze ab. Freudenberg bildet chronologisch den Abschluss einer Bildergalerie in der Gedenkstätte Berliner Mauer mit den Namen, Geburts- und Todesdaten von über 130 Opfern der innerstädtischen Grenze. Die Namen von acht ums Leben gekommenen Grenzsoldaten sind in eine benachbarte Stele eingraviert.                

Opfer-Andachten in der Kapelle der Versöhnung

Am 30. Todestag Chris Gueffroys findet zu seinem Gedenken in der Kapelle der Versöhnung eine Andacht statt. Das kleine Gotteshaus aus Lehm und Holz steht mitten auf dem ehemaligen Grenzstreifen und ist Teil der Mauer-Gedenkstätte. Seit 2005 gibt fast das ganze Jahr über viermal wöchentlich Andachten, in deren Mittelpunkt immer ein konkretes Mauer-Schicksal steht. Im Falle Gueffroys wird an einen jungen Mann erinnert, der nicht zum Militär will und deshalb kein Abitur machen darf. Der davon träumt, Schauspieler oder Pilot zu werden. "Solange wir die Biografien der Todesopfer lesen, bleiben die Schicksale der Opfer Teil unserer Gegenwart", sagt Gedenkstätten-Direktor Axel Klausmeier der Deutschen Welle. "Ihre Schicksale zeigen, wie groß der Leidensdruck und wie stark ihr Wunsch nach Freiheit gewesen sein müssen."

Fenster des Gedenkens
Chris Gueffroy (unten rechts) im "Fenster des Gedenkens"; Winfried Freudenberg (oben rechts) ist der letzte Mauer-ToteBild: DW/Marcel Fürstenau

Klausmeier betont aber zugleich die zeitlose Bedeutung des Gedenkens. Es sei nichts, das fertig gestellt oder abgeschlossen werden könne. Der Historiker sieht darin einen Identität stiftenden Prozess, "der uns hilft, die Gegenwart zu verstehen, indem wir die Erinnerung wach halten". Das funktioniert in der Mauer-Gedenkstätte besonders gut beim "Fenster des Gedenkens" mit den Fotos der Todesopfer. Aus Befragungen wisse man, dass die meisten Besucher dadurch einen emotionalen und individuellen Zugang zum abstrakten Thema der deutschen Teilung fänden.

"Diktaturen können friedlich überwunden werden"

Und das Interesse ist riesig. Jahr für Jahr wollen mehr Menschen aus aller Welt eines der wenigen erhaltenen Mauer-Originale sehen. Über eine Million waren es 2018. Einheimische Besucher, sagt Klausmeier, verbänden oft persönliche Erinnerungen oder Familiengeschichten mit der innerdeutschen Grenze. Ausländische Touristen hingegen kämen oft aus einem Grund: um die Mauer zu sehen. Neben Nordamerikanern und Westeuropäern fänden viele Südkoreaner den Weg zum Gedenkstätten-Areal in der Bernauer  Straße.

Bernauer Straße - Berliner Mauerweg
Nur wenige hundert Meter Mauer sind in der zentralen Gedenkstätte erhalten; in ganz Berlin waren es mal 155 Kilometer Bild: picture-alliance/dpa/Paul Zinken

"Für sie ist der Besuch natürlich mit sehr direkten und emotionalen Bezügen zu ihrem Land verbunden", sagt Klausmeier. Berlin und seine Gedenkstätte seien für Menschen aus dem geteilten asiatischen Land ein Ort der Hoffnung. Denn die Geschichte der Überwindung der Mauer zeige auch: "Diktaturen können friedlich überwunden werden, wenn die politischen Rahmenbedingungen es erlauben."

"Wir Deutschen sind das glücklichste Volk der Welt"

Wie und warum das in Deutschland geklappt hat - auch das lässt sich in der Gedenkstätte nachempfinden. "Wir Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk auf der Welt", sagt der Regierende Bürgermeister des damaligen West-Berlins, Walter Momper, auf einer Kundgebung am Tag nach dem Mauer-Fall. Chris Gueffroy bleiben diese Glücksmomente im November 1989 verwehrt.

Berlin Mauerstreifen Bernauer Straße
In der Kapelle der Versöhnung auf dem ehemaligen Grenzstreifen finden regelmäßig Andachten für die Mauertoten stattBild: DW/R. Fuchs

Sein Freiheitsdrang ist so stark, dass er sein Leben riskiert - und verliert, weil er an ein falsches Gerücht glaubt. "Mauern können Menschen umbringen" bedauert Gedenkstätten-Direktor Klausmeier - und er denkt dabei auch an Mauern im 21. Jahrhundert. Aber Menschen ließen sich von Mauern auch nicht aufhalten. "Das sollten wir uns bewusst machen, wenn wir über militärische Grenzsicherungen diskutieren."