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Politik

Terroristen sind keine einsamen Wölfe

18. März 2019

Den Terroranschlag von Christchurch hat nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen ein einzelner Täter ausgeführt. Ihn als "einsamen Wolf" zu bezeichnen, täuscht über den Nährboden des rechtsextremen Terrors hinweg.

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Neuseeland Terroranschlag auf Moscheen in Christchurch | Polizeipräsenz
Bild: Reuters/E. Su

Der norwegische Terrorist Anders Breivik gilt als Prototyp des einsamen Terror-Wolfs. Am 22. Juli 2011 ermordete er 77 Menschen. "Europa wird immer vertrauter mit Angriffen von Extremisten, aber Breiviks Handlungen machten ihn zum tödlichsten Angreifer vom Typ einsamer Wolf ("deadliest lone wolf attacker") in der Geschichte des Kontinents", schrieb das US-amerikanische Magazin Newsweek im April 2016 über Breivik.

Der mutmaßliche Täter von Christchurch, der nur wenige Stunden nach dem Terroranschlag auf die beiden Moscheen zum ersten Mal als einsamer Wolf bezeichnet wurde, hat den Norweger tief verehrt.

"Keine Gruppe befahl mir zu handeln"

Die Ermittlungen stehen noch ganz am Anfang. Zum jetzigen Zeitpunkt steht noch nicht einmal eindeutig fest, ob der des Terrors angeklagte Brenton Tarrant das 74-seitige 'Manifest' selber verfasst hat, das er kurz vor der Tat über die sozialen Medien verbreitete und auch per Email an das Büro von Premierministerin Jacinda Ardern schickte. Darin heißt es: "Ich bin kein direktes Mitglied einer Organisation oder Gruppe, obwohl ich an viele nationalistische Gruppen gespendet habe und mit noch mehr in Kontakt gewesen bin. (…) Keine Gruppe befahl mir zu handeln, diese Entscheidung habe ich selbst getroffen."

Gleichzeitig betont der Verfasser: "Die Gesamtzahl der Menschen in diesen Organisationen beträgt Millionen, die Gesamtzahl der Gruppen Tausende." Derjenige, der sich bewusst als Einzeltäter stilisiert, sieht sich offenbar doch als Teil einer größeren Bewegung. Ein einsamer Wolf?

In den schwärzesten Stunden suchen wir Menschen Sicherheit. Es verschafft uns eine schützende Distanz, wenn wir einen Terroristen, der ein unvorstellbar menschenverachtendes Verbrechen begangen hat, als einsamen Wolf bezeichnen – als ein Rudeltier, das sein Rudel verlässt, um seine Grausamkeit zu exekutieren.

Anders Behring Breivik
Anders Behring Breivik gilt als Prototyp des einsamen WolfsBild: picture-alliance/NTB SCANPIX/L. Aserud

Die Verantwortung des ideologischen Hinterlands

"Die Vorstellung, dass Terroristen alleine operieren, erlaubt es uns, die Verbindung zwischen einem Gewaltakt und seinem ideologischen Hinterland zu lösen", bringt es der britische Journalist Jason Burke in einem Beitrag für den Guardian vom 30. März 2017 auf den Punkt. Burke hat mehrere Bücher über den IS-Terror und Al-Kaida geschrieben. Die Theorie vom einsamen Wolf bestärkt die menschliche Wunschvorstellung, "dass die Verantwortung für den gewalttätigen Extremismus eines Einzelnen allein beim Einzelnen selbst liegt."

Die Terroristen der Moderne mögen nicht in jedem Fall einer Terrorgruppe angehören, die klar zu benennen ist wie Al Kaida, der selbsternannte Islamische Staat oder der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU). Dennoch erfolgt ihre Radikalisierung in dem gesellschaftlichen Klima, in dem sie leben. Das Internet und die sozialen Medien erlauben Terroristen heute eine noch nie dagewesene globale Vernetzung und Verbreitung – bis hin zum Live-Stream ihrer Tat auf Facebook. 

Terroristen sind Produkte ihrer Zeit. Als globaler gesellschaftlicher Trend hat sich in den vergangenen Jahren ein Anstieg der Intoleranz etabliert, befeuert von einer Politik, die zunehmend populistischer wird. Diese Sehnsucht nach einfachen Antworten polarisiert. Andersdenkende und Fremde werden zu Feindbildern. Dass der Extremismus sich in der Mitte der Gesellschaft etabliert, wird durch die Digitalisierung des menschlichen Lebens verstärkt.

Die soziale Komponente des Terrorismus

Reale Beziehungen werden durch virtuelle ersetzt. Doch auch virtuelle Kontakte haben reale Folgen. David Sonboly, der am 22. Juli 2016 an einem Münchener Einkaufszentrum neun Menschen ermordete, bewegte sich intensiv in virtuellen, ausländerfeindlichen Netzwerken. Als Datum seiner Tat wählte Sonboly bewusst den fünften Jahrestag des Terroranschlags von Anders Breivik. Virtuell gab es dafür Lob von Gleichgesinnten. Auch dschihadistische Attentäter, die in Europa als mutmaßliche IS-Einzeltäter zuschlugen, hatten unmittelbar vor ihren Taten virtuelle Kontakte zu IS-Mitgliedern in Syrien und im Irak. So wie Anis Amri, der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz. 

"Terrorismus ist nicht etwas, was man selbst macht, sondern sehr sozial", schreibt Guardian-Journalist Jason Burke. "Die Menschen interessieren sich für Ideen, Ideologien und Aktivitäten, auch für entsetzliche, weil andere Menschen an ihnen interessiert sind." Es geht darum, bekannt zu werden und Nachahmer anzuspornen.

Sollte der Australier Brenton Tarrant tatsächlich der Autor des 74-seitigen Papiers sein, das in Zusammenhang mit dem Terroranschlag von Christchurch aufgetaucht ist, dann bezieht er sich darin ausdrücklich auf Breivik und auf den US-Amerikaner Dylann Roof, der am 17. Juni 2015 neun Afro-Amerikaner in einer Kirche in Charleston erschoss: "Ich habe die Schriften von Dylan(n) Roof und vielen anderen gelesen, aber wahrhaft inspiriert hat mich nur (…) Breivik."

Breivik zeigte im Gerichtssaal den Hitler-Gruß, Tarrant formte bei seinem ersten Auftritt vor Gericht am Samstag Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand zum Kreis und spreizte die anderen drei Finger ab – ein gängiges  Zeichen unter weißen Rechtsextremisten.

Christchurch Terroranschlag Anhörung Täter
Der Angeklagte bei der Anhörung vor GerichtBild: picture-alliance/dpa/M. Mitchell

Breivik und Tarrant hatten nachweislich Kontakt mit anderen Rechtsextremen im In- und Ausland. Real und virtuell. Brenton Tarrant ist viel gereist, auch in Europa. Auf seinem inzwischen gelöschten Facebook-Profil teilte er rechtsextremes Gedankengut und Artikel über Rechtsextreme aus Europa, darunter mindestens einen Bericht der Deutschen Welle über rechtsextreme Soldaten in der Bundeswehr, die für ihn offenbar Brüder im Geiste sind.

Breivik und Tarrant sehen sich selbst als moderne Kreuzritter im Kampf um den Erhalt und die Reinheit einer mutmaßlich bedrohten weißen, europäischen Rasse. Beide betrachten vor allem Muslime als vermeintliche "Invasoren", die nach der Weltherrschaft streben.

Die Ideologie von Blut und Boden

An dieser Stelle ergeben sich ideologische Schnittmengen zwischen rechtsextremem Terrorismus und dem gesellschaftlichen Mainstream der westlichen Welt. Islamophobie, Rassismus und weißer Nationalismus haben längst Einzug in die Parlamente der westlichen Demokratien erhalten, in den USA und Australien genauso wie in Europa.

Der islamfeindliche australische Senator Fraser Anning aus dem Bundesstaat Queensland schrieb unmittelbar nach dem Anschlag von Christchurch in seiner offiziellen Stellungnahme: "Lassen Sie uns klarstellen: auch wenn Muslime heute vermutlich die Opfer waren, sind sie meistens die Täter. Weltweit töten Muslime in industrieller Größenordnung im Namen ihrer Religion."

Rechtpopulismus und Rechtsextremismus bedienen sich gleichermaßen der Blut- und Boden-Ideologie, wenn sie den Begriff Nation definieren. Wie Brenton Tarrant, der Angeklagte von Christchurch, verbreitet in Deutschland auch Parteichef Alexander Gauland von der rechtsnationalen AfD die These vom mutmaßlichen "Bevölkerungsaustausch" zu Gunsten der Muslime. Aus der vermeintlichen "Umvolkung" Deutschlands durch muslimische Flüchtlinge und Migranten leitet Gaulands Partei eine nationale Politik der Abschottung ab: "Wir haben kein Interesse daran, Menschheit zu werden. Wir wollen Deutsche bleiben", sagte Gauland im September 2018 während eines Auftritts in Frankfurt.

Alexander Gauland
AfD-Chef Alexander GaulandBild: DW/K. A. Scholz

Terroristen operieren nicht in Isolation

Der mutmaßliche australische Rechtsterrorist Brenton Tarrant, der in Neuseeland zum Täter wurde, hat sich genauso wenig im gesellschaftlichen Vakuum radikalisiert wie der deutsche Konvertit Christian Lappe, der für den IS in Syrien starb. Oder wie Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe, die fuer den NSU in Deutschland mordeten.

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Studie über 119 terroristische Einzeltäter, die das Internationale Zentrum für Terrorismusstudien der Pennsylvania State University (ICST) im Februar 2013 vorgelegt hat. Danach hat sich die große Mehrzahl der untersuchten terroristischen Einzeltäter "regelmäßig an einem erkennbaren und beobachtbaren Spektrum von Verhaltensweisen und Aktivitäten mit einer größeren Interessengruppe, sozialen Bewegung oder terroristischen Organisation beteiligt."

Christchurch Terroranschlag Anhörung Täter
Der Angeklagte bei der Anhörung vor GerichtBild: picture-alliance/dpa/M. Mitchell

Die ICST-Studie kommt zu einem weiteren, dramatischen Schluss. Bei rund zwei Dritteln der untersuchten Fälle war Familienangehörigen, Freunden oder Bekannten das Engagement des Täters für eine bestimmte extremistische Ideologie bewusst. In 64 Prozent der Fälle waren sich Familien und Freunde "auch der Absicht des Einzelnen bewusst, sich an einer terroristischen Aktivität zu beteiligen, weil der Täter es ihnen mündlich mitgeteilt hatte."

Insofern greift die komfortable Theorie vom einsamen Wolf viel zu kurz. Terroristen sind Teil der Gesellschaft. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sie zu stoppen.