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GesellschaftDeutschland

Auch Ärzte und Pflegekräfte brauchen Hilfe

28. Dezember 2020

In Krankenhäusern und Pflegeheimen sorgen sie für andere. Doch wer hilft den Helfern bei dramatischen Todesfällen, Erschöpfung oder der Angst vor Ansteckung mit COVID-19? In Deutschland gibt es die PSU Helpline.

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Seitlicher Blick auf den Oberkörper einer Frau in blau-grüner medizinischer Schutzkleidung mit Haube, Schutzbrille, Handschuhen und Mund-Nasen-Schutz. Sie stützt ihre Hände in Kopfhöhe ab und lehnt ihre Stirn dagegen, der Blick geht nach unten
Bild: Robert Kneschke/Zoonar/picture alliance

"Ich war die letzten Wochen schon total kaputt, wurde zweimal (auf Corona) getestet, war zum Glück immer negativ. Weil es nicht besser wurde, bin ich zu meinem Hausarzt. Aber der hatte mit seiner vollen Praxis nur kurz für mich Zeit. Als ich zuhause war, hab' ich erstmal nur noch geweint." Diese Altenpflegerin (51), die anonym bleiben möchte, erfuhr von der kostenlosen Telefonberatung PSU Helpline und rief an.

PSU steht für psychosoziale Unterstützung des Vereins PSU-Akut in München für Beschäftigte im Gesundheitswesen. 1400 Personen wurden dieses Jahr beraten. Das Grundprinzip heißt "peer support": Besonders geschulte Kollegen aus Gesundheitsberufen hören zu und unterstützen auf Augenhöhe, denn sie wissen, was in Kliniken und Pflegeheimen passiert.

Zwei Krankenschwestern in grüner Schutzkleidung und mit Mund-Nasen-Schutz umarmen einander, im Hintergrund ist ein gekachelter Raum zu sehen. Wir sehen das Gesicht einer der beiden Frauen, die ihre Augen geschlossen hat, während sie ihre Kollegin an sich drückt
Umarmung spanischer Krankenpflegerinnen - auch bei der PSU Helpline gilt: Kollegen helfen Kollegen - peer supportBild: Álvaro Laforet/Hm Hospitales/dpa/picture-alliance

Auch ohne Corona-Pandemie erleben Mediziner und Pflegekräfte extrem Belastendes, das sie oft jahrelang nicht loslässt: Da stirbt eine Frau oder ihr Baby bei der Geburt, ein 11-jähriges Mädchen nach einem Verkehrsunfall, oder der Nachtdienst findet einen Patienten, der unerwartet gestorben ist. Bei einer Operation passiert ein Fehler, auf der Psychiatrie wird ein Patient aggressiv, oder die hohe Belastung durch Personalmangel führt zur völligen Erschöpfung - wie bei der Altenpflegerin, die die Nummer der Helpline gewählt hat.

Corona-Pandemie verschärft Belastungen

Andreas Igl, Experte für Krisenmanagement und psychosoziale Unterstützung, hat mit ihr und vielen anderen aus der Pflege gesprochen, am Telefon und direkt am Arbeitsplatz mit ganzen Teams. Er hat zugehört, Probleme erfragt: Pflegekräfte und Mediziner arbeiten unter extremem Druck in der Corona-Krise. Sie müssen erleben, dass Menschen sterben, ohne angemessen begleitet zu werden. Viele haben Angst, das Virus zu Patienten oder Bewohnern zu tragen oder umgekehrt von der Arbeit in ihre Familien, wo vielleicht ein Kind mit schwerem Asthma oder die Großmutter gefährdet wäre. Diese Sorgen nannten auch Pflegekräfte des Sozialverbands Diakonie in einer repräsentativen Umfrage.

Diese Infografik zeigt mit blauen Balken, zu wie viel Prozent Pflegekräfte der Diakonie sich fürchten, das Coronavirus auf Bewohner (84), Familie/Freunde (81) oder sich selbst (60) zu übertragen

Immer mehr Beschäftigte müssen in Quarantäne oder erkranken selbst, die genauen Zahlen sind nicht bekannt. Diakonie-Präsident Ulrich Lilie berichtete von einer Einrichtung, in der von 52 Pflegekräften noch acht im Dienst seien, das sei kein Einzelfall. Jede Kollegin, die ausfällt, fehle im "normalen Wahnsinn", habe eine Pflegekraft gesagt, berichtet Andreas Igl der DW. Er ist Geschäftsführer von PSU-Akut und leitet die PSU Helpline. Sie wurde im März ausgebaut, um Menschen im Gesundheitswesen in der Pandemie schnell und anonym helfen zu können: täglich von 9 bis 21 Uhr.

Die Nachfrage steige, sagt Igl, das Team von rund 40 Beratenden soll weiter aufgestockt werden. Hohen Bedarf nähmen auch Ärzte wahr: "Die Pandemie verschärft die Belastungen." Das gefährde nicht nur die Gesundheit der Menschen in Helferberufen, es könne auch zum Risiko für Patienten und Bewohner werden.

Andreas Igl, Experte für psychosoziale Unterstützung, lächelt im blauen Oberhemd in die Kamera (PSU-Akut e.V.)
Andreas Igl, Experte für Krisenmanagement und psychosoziale Unterstützung, leitet die PSU HelplineBild: PSU-Akut e.V.

Der Pflegereport 2020 der Barmer-Krankenkasse stellte schon für die Jahre 2016 bis 2018 fest, dass Altenpflegekräfte mehr Krankheitstage hatten als andere Berufsgruppen, auch wegen psychischer Erkrankungen.

Die erschöpfte Altenpflegerin sagte nach ihrem Anruf bei der Helpline: "Gut war für mich, dass ich in dem Gespräch nichts zurückhalten musste. Man überlegt ja sonst: Was sagt man alles, kann der andere damit umgehen? Wir haben eine Dreiviertelstunde gesprochen. Der Kollege hat mir dann empfohlen, noch mit einer Psychotherapeutin aus dem Helpline-Team zu sprechen. Die hat mich am nächsten Tag angerufen. Sie hilft mir jetzt dabei, dass ich mich wieder stabilisiere."

Rechtzeitig auf Warnzeichen achten

Für Feuerwehrleute, Polizisten, Rettungskräfte oder Lokführer gibt es seit vielen Jahren Angebote zur Stabilisierung nach Kriseneinsätzen, Vorfällen mit vielen Toten und Verletzten oder Suiziden, um Traumafolgestörungen vorzubeugen. In Krankenhäusern und Pflegeheimen aber, wo es tagtäglich um Fragen von Leben oder Tod gehen kann, steckten die Angebote in den Kinderschuhen, sagt Andreas Igl.Psychotherapeutin Dr. Marion Koll-Krüsmann hat langjährige Erfahrung in der Trauma-Behandlung und Präventionsforschung: "Der Umgang mit den Symptomen am Anfang ist wahnsinnig wichtig." Die fachliche Leiterin der PSU Helpline empfiehlt, dass Betroffene sich so früh wie möglich melden, wenn sie Gesprächsbedarf haben. Achten sollten sie auf Veränderungen: "Schlafstörungen, Gedankenkreisen, Dünnhäutigkeit. Ich bin aggressiver als normalerweise, habe nicht die Nerven, mich um meine Kinder zu kümmern, ich wünsche mir, ich käme in (Corona-)Quarantäne - alles, woran man merkt, dass man überlastet ist." Auf der Website der PSU Helpline gibt es einen anonymen Selbsttest und konkrete Hinweise zur Stressreduktion.

Deutschland Trier | Auto erfasst Fußgänger in Fußgängerzone
Für Feuerwehr, Polizei und Rettungskräfte gibt es schon länger Konzepte zur psychosozialen Unterstützung Bild: Harald Tittel/dpa/picture alliance

Traumafolgen-Prävention: Abstand und Auseinandersetzung

Das Gespräch mit den ausgebildeten Kollegen der Helpline biete viele Chancen, sagt die Psychotherapeutin: sich ausweinen, wenn nötig, hier könne man nicht das Gesicht verlieren, alles offen aussprechen, ohne bewertet zu werden, ohne Kollegen "oder die Liebsten zuhause zu belasten". Beim Erzählen könne man Erlebtes ordnen.

Psychotherapeutin Dr. Marion Koll-Krüsmann schaut in die Kamera (PSU-Akut e.V.)
Psychotherapeutin Marion Koll-Krüsmann: Früh auf Symptome achten und das Gespräch suchenBild: PSU-Akut e.V.

Die PSUler am Helpline-Telefon helfen, die Symptome zu normalisieren: "Ja, es ist angemessen, dass man sich belastet fühlt, angemessen, dass man immer diese Bilder im Kopf hat, dass man dünnhäutig und kraftlos ist." Anfänglich könne es darum gehen, Abstand zu finden: "Was macht mich stabiler, was hilft mir normalerweise in schwierigen Situationen?" Auch online bietet die Helpline Informationen zur Stärkung von Ressourcen, Bewältigung von Belastungen sowie konkrete Tipps gegen Panik und akute Angst.

Die Auseinandersetzung mit extremen Erfahrungen im Gespräch könne die Speicherung im Hirn verändern, sagt Koll-Krüsmann: vom diffusen ins episodische Gedächtnis. Das diffuse Gedächtnis könne man sich vorstellen "wie einen Wäschekorb, wo alles reingestopft wird, bevor es in die Waschmaschine kommt". Wenn traumatische Erfahrungen aus dem diffusen Gedächtnis aufstiegen, löse das Alarm aus. Sie zieht scharf die Luft ein: "Der Suizid des Patienten!" oder "Der hat mich von hinten angegriffen!" oder "Dieser Fehler, der passiert ist!"

Das episodische Gedächtnis dagegen sei wie "ein Apothekerschrank mit ganz vielen Schubladen". Das helfe, um Kontrolle über quälende Erinnerungen zu gewinnen. In besonders schweren Fällen leitet die Helpline die Anrufer weiter an die psychologische Sprechstunde oder andere Krisenanlaufstellen.

“Gesundheitssystem noch nicht um die Ohren geflogen”

Andreas Igl fürchtet, dass in den nächsten Wochen die Belastung von Beschäftigten im Gesundheitssystem weiter zunimmt, weil immer weniger Personal zur Verfügung steht. Nur sehr wenige Organisationen hätten funktionierende Konzepte der psychosozialen Unterstützung. "Das Konzept, das jetzt greifen wird, ist Urlaubssperre", vermutet er.

Intensivbetten werden knapp

Damit werde den verbleibenden Ärzten und Pflegekräften die Ressource der Erholung genommen: "Aber dazu gibt es oft gar keine Alternative, weil sonst die Klinik, die Abteilung, das Altenheim schließen muss." Seine Erklärung dafür, "dass uns das Gesundheitssystem noch nicht um die Ohren geflogen ist": Dort arbeiten "hochkompetente Menschen, die über längere Zeit funktionieren können und wollen".

Marion Koll-Krüsmann hat selbst Erfahrungen in Kriseneinsätzen: Je chaotischer es werde, "desto wichtiger ist es, sich gut um sich zu kümmern und zu planen, wie man Energie tanken kann". Wer im Gesundheitswesen arbeite, verbrauche in der Pandemie besonders viel Energie. Auftanken sei schwieriger als sonst und besonders wichtig. Spazieren in der Natur könne helfen oder sich zum Tanzen mit Freundinnen über Zoom treffen. Oder etwas Neues lernen: ein Instrument, eine Sprache, jonglieren oder schnitzen.

Wir blicken auf ihre Rücken: Ein Mann geht mit einem Mädchen auf einem schmalen Weg durch einen hellgrünen Laubwald. Sonnenlicht fällt durch das Blätterdach (picture-alliance)
Stresshormone abbauen: Bewusst durch die Natur gehen oder wenigstens drei Runden um den HäuserblockBild: picture-alliance

Ganz wichtig sei es, sich nach der Arbeit nicht direkt aufs Sofa zu legen, sondern sich moderat zu bewegen, auch wenn man den ganzen Tag über die Station gerannt sei: "Chronischer Stress entsteht, wenn man nach der Arbeit gleich zur Ruhe übergeht oder wenn man nur Sport macht und nicht in die Ruhe kommt."

“Wie qualvoll Menschen sterben”

Die Psychotherapeutin sagt, sie habe viele Menschen in Helferberufen erlebt, die alles versuchten, um auch die aktuelle Ausnahmesituation zu meistern. Sie litten nicht nur unter der eigenen Belastung: "Wenn man sieht, wie qualvoll Menschen sterben, und andererseits in der Straßenbahn mit jemandem streiten muss, der meint, er müsste keine Maske anziehen."

Ob alle nach der Pandemie in den Gesundheitsberufen bleiben? In der Pflegebranche wächst der Unmut: Als Niedersachsen kürzlich die tägliche Arbeitszeit auf zwölf und die wöchentliche auf 60 Stunden erhöhte, gab es viel Protest. In sozialen Netzwerken kündigten einige den Pflexit an, den Ausstieg aus dem Pflegeberuf.