"Corona-Haustiere" im Tierheim und auf Tinder
8. November 2021"Ich bin niemand für eine Nacht" - für viele, die bei Tinder in die Augen von Paris schauen, dürfte es trotzdem Liebe auf den ersten Blick sein. Und dann noch diese Selbstbeschreibung auf seinem Dating-App-Profil: begeisterter Autofahrer, der eine Zeit lang in Griechenland gelebt hat, intelligent, treu und loyal. Wen es jetzt noch nicht erwischt hat, um den ist es spätestens mit seinem ultimativen Aufruf geschehen: "Lass mich Dein Beschützer sein!"
Die Sache hat nur einen kleinen Haken: Paris ist ein Hund. Und lebt im Tierheim in München.
"Eine Marketingagentur aus München hatte die Idee, wir haben dann sieben Profile von Katzen und sieben von Hunden ausgewählt und angelegt", sagt Kristina Berchtold vom Tierschutzverein München, "der Algorithmus hat die Tiere erkannt und erst einmal gesperrt. Tinder hat sie nach einem Gespräch aber alle wieder freigeschaltet und uns sogar Werbung spendiert."
Tinder als kreative Idee für traurigen Anlass
Und so suchen auch die Hunde Harcos und Joshi und die Katze Saskia auf der Dating-Plattform kein schnelles Abenteuer, sondern eine langfristige, stabile Beziehung. Wer sie matcht, kann die Vierbeiner im Münchner Tierheim richtig kennen- und lieben lernen. 1085 Tiere tummeln sich aktuell dort, auch Igel, Wasservögel und sogar Füchse, aber vor allem Katzen und Kaninchen. Was viele von ihnen eint: kein Glück in der vorigen Partnerschaft, die oft im Corona-Lockdown begann.
So wie Bella, ein Musterbeispiel für ein gescheitertes Pandemie-Projekt. Die Kurzhaarkatze, 2020 geboren, wurde mit ihrem Baby in einem Karton ausgesetzt, das Junge musste wegen einer Krankheit umgehend eingeschläfert werden. In der Kiste lag ein Brief, auf dem stand: "Kann mir die Tierarztkosten nicht mehr leisten."
Berchtold sagt: "Wir wollen mit der Aktion auch auf ausgesetzte Tiere aufmerksam machen. Und auf die schwierigen, kranken und alten Tiere, die seit Beginn der Corona-Krise verstärkt in den Tierheimen landen."
Boom beim Kauf von Katzen und Hunden in Corona-Zeiten
Könnte Mico sich ein eigenes Profil auf Tinder erstellen, würde dort wohl das stehen: Pekinese, acht Jahre, Typ lustiger Clown mit großem Ego, der alle zum Lachen bringt. Auch der kleine Hund im Bonner Tierheim hat die so typische Corona-Leidensgeschichte hinter sich: per Mausklick auf Ebay-Kleinanzeigen bestellt, Halter schnell überlastet, nach ein paar Wochen im Tierheim abgegeben.
Von 2019 auf 2020 gab es in Deutschland eine Zunahme von einer Million Katzen und 600.000 Hunden, so viele, als hätten sich ganz Köln und Leipzig auf einen Schlag eine Katze oder einen Hund zugelegt. Tierschützer warnten eindringlich vor dem unüberlegten Kauf eines Haustiers in der Corona-Pandemie, vergeblich. In Moers warf jüngst eine 65-Jährige ihren Hund über den zwei Meter hohen Zaun des Tierheims. Begründung: Sie fühlte sich mit dem Tier überfordert.
Corona-Folge: vollkommen überfüllte Hundeschulen
Julia Zerwas weiß, wie sich der typische Anruf eines solchen Überforderten anhört. War es vor Corona einer pro Woche, sind es jetzt im Schnitt fünf. "Ich habe einen Hund, der hat neulich mein Kind angeknurrt. Oder einen Nachbarn gebissen. Jetzt muss er so schnell wie möglich weg", sagt die Leiterin des Tierheims Albert Schweitzer in Bonn. "Die Bereitschaft der Halter, dran zu bleiben, ist gering. Sobald es Probleme gibt, versuchen die wenigsten es noch einmal."
Es ist ein Teufelskreis: Die Tiere benötigen Zuwendung, Aufmerksamkeit und Erziehung, die Hundeschulen zum Beispiel sind aber, verstärkt durch Corona, rappelvoll und bis auf Monate ausgebucht. "Das Schlimme ist gar nicht einmal dieses: 'Wir müssen den Hund wieder abgeben, weil wir jetzt wieder arbeiten müssen und er nicht mehr in den Alltag passt'. Sondern dass die Corona-Tiere jetzt knapp ein Jahr alt sind, in der Pubertät stecken und schwierig werden", sagt Zerwas, "Wir bekommen hier fast nur noch völlig unausgelastete, verhaltensauffällige Hunde, die schon einmal gebissen haben."
Gesucht: das perfekte Haustier mit besten Manieren und 1a-Lebenslauf
Vergangene Woche erst hat die Leiterin des Bonner Tierheims wieder vier Kätzchen im Tierheim aufnehmen müssen, die ausgesetzt worden waren. Bei ihr landen immer mehr Hunde, die entlaufen sind, weil sie das Stadtleben nicht kennen. Und dann ist das Tierheim ja auch noch Auffang- und Quarantänestation für die Tiere aus dem Ausland, die nicht vollständig geimpft wurden, viele von ihnen gerade einmal zehn Wochen alt.
Es scheint, als wären die Deutschen auch bei der Wahl ihres Haustiers im Tinder-Modus angekommen: Gesucht wird der perfekte Partner, ohne Makel und Schwächen, der eine absolut reibungslose Beziehung verspricht. "Wenn der Hund Autofahren und alleine bleiben kann, wenn er sich mit Kindern versteht und mit anderen Hunden spielt, wunderbar. Aber sobald irgendetwas nicht aalglatt ist, wird die Vermittlung schwierig", so Zerwas.
Illegaler Welpenhandel steigt massiv an
Wenn Tinder die Plattform ist, die einige wenige Tiere von ihrem Leid erlösen kann, ist Ebay-Kleinanzeigen immer noch das Portal, das für Hunderte Vierbeiner Startpunkt für Stress, Krankheiten Qualen und manchmal sogar den Tod ist. Der illegale Welpenhandel boomt in Corona-Zeiten, bereits im ersten Halbjahr 2021 waren nach einer Auswertung des Deutschen Tierschutzbundes 1307 Tiere betroffen, mehr als im kompletten vergangenen Jahr. Wegen der hohen Dunkelziffer ist das nur die Spitze des Eisbergs.
"Die Plattform öffnet dem illegalen Handel Tür und Tor, dieser Handel muss endlich beschränkt und gesetzlich reguliert werden, wenn schon ein Verbot nicht durchzusetzen ist. Die Strafen für die illegalen Händler, die Kontrollen und auch die Aufklärung der Fälle gehören verschärft", sagt Hester Pommerening vom Deutschen Tierschutzbund, "doch seitens der Politik hat sich tatsächlich gar nichts getan, da ist nichts passiert und die Lage wird immer dramatischer."
Deutsche Politik vernachlässigt das Tierwohl
Pommerening erzählt die Geschichte des Hamburger Tierheims, das neulich einem Hundewelpen das Leben rettete, der in einer Mülltonne entsorgt worden war. Dabei hatte sich die Bundesregierung zum Retter der Haustiere aufschwingen wollen, das Thema Welpenhandel war explizit 2018 im Koalitionsvertrag genannt. "Unsere Forderungen sind aber mehr oder weniger sang- und klanglos verhallt und verschleppt worden, bei Ministerin Julia Klöckner sind wir auf taube Ohren gestoßen."
Tierschutzorganisationen setzen ihre Hoffnungen jetzt auf die neue Regierung, einen neuen, möglicherweise grünen Minister, der sich mehr für das Tierwohl einsetzt. Und auch auf EU-Ebene darauf drängt, den illegalen Tierhandel einzuschränken, mit einer verbindlichen europaweiten Kennzeichnung und Registrierung von Hunden und Katzen. Hester Pommerening: "Was wir derzeit sehen, ist ein regelrechter Konsum von Lebewesen. Und Menschen, die sich Tiere als Ware oder Spielzeug zulegen und sie, wenn sie nicht funktionieren, einfach umtauschen wollen."