Corona-Krise gefährdet Menschen ohne Papiere
12. Mai 2020Der Mann ist verzweifelt: Seiner Tochter geht es schlecht, sie hat Husten und Fieber. Er kommt mit ihr in die Praxis Andocken der Diakonie Hamburg, so erinnert sich Hebamme Maike Jansen im Telefonat mit der DW: Normalerweise hätte man sie hier in der Anlaufstelle für Menschen ohne Papiere versorgen können. Doch in der Corona-Pandemie Mitte März ist alles anders. Vater und Tochter werden vor die Tür geschickt, der ehrenamtliche Arzt befragt sie draußen - mit Abstand.
Sie sind vor kurzem aus Italien gekommen, einem Risikogebiet. Der Mediziner wählt immer wieder die Nummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes - besetzt. Als er endlich jemanden erreicht, heißt es, es könne niemand kommen. Vater und Tochter sollen sich bei einer Untersuchungsstelle melden.
"Weiterverbreitung der Infektion"
Für Teresa Steinmüller, Gynäkologin und Psychotherapeutin bei Andocken, ist das keine gute Lösung: "Das sind Patienten, die haben Angst vor Kontrollen." Die Wahrscheinlichkeit sei hoch, dass sie nicht zur Untersuchung gegangen seien, um keine Abschiebung zu riskieren. Sicher fühlen sich Papierlose nur dort, wo ihre Anonymität gewahrt bleibt. Falls die Tochter infiziert war, gefährde das nicht nur sie selbst, sagt die Ärztin: "Das heißt Weiterverbreitung der Infektion." Für Teresa Steinmüller ist das ein Spiel mit der Gefahr - "wie russisches Roulette".
Derzeit gibt es bei Andocken keine Notfallsprechstunde mehr. Im Wartebereich, wo sich vor dem Corona-Ausbruch 20 bis 30 Menschen drängten, schirmen Stühle und Schilder die Mitarbeiterinnen am Empfang ab. Jetzt dürfen hier nur noch sechs Personen sitzen, alle brauchen einen Termin. Viele bleiben unversorgt, fürchtet Maike Jansen, weil auch andere Beratungsstellen ihr Angebot reduziert oder sogar eingestellt haben. Auch die Clearingstelle für Menschen ohne Krankenversicherung, die medizinische Versorgung vermittelt und Zuschüsse geben kann, berät nur noch telefonisch.
"Die Gesundheit aller sicherstellen"
Die Risikogruppe der Menschen ohne Papiere dürfe man nicht vernachlässigen, warnt PICUM, ein Netzwerk internationaler Nichtregierungsorganisationen (NGO): "Die COVID-19-Pandemie erinnert an die Notwendigkeit einer universellen Gesundheitsversorgung, die auch Menschen am Rand der Gesellschaften erreicht, um die Gesundheit aller sicherzustellen." Wie viele Papierlose in Deutschland leben, ist unbekannt. Die letzte wissenschaftliche Schätzung ging für 2014 von 180.000 bis maximal 520.000 Personen aus.
Menschen ohne Papiere, undokumentierte Migranten, so formuliert es PICUM, betreuen unsere Alten und Kinder, reinigen unsere Wohnungen und Büros, kochen und servieren in Restaurants unser Essen oder bauen unsere Gebäude. Sie gehen zur Arbeit, auch wenn sie krank sind, weil sie keine Absicherung haben. In der Corona-Krise haben viele ihre Einkünfte verloren. Auch die WHO fordert, Menschen in prekären Verhältnissen zu versorgen.
NGOs fordern "dringende Sofortmaßnahmen"
Nichtstaatliche Beratungsstellen wie Andocken sehen die Regierung in der Pflicht. Zu Beginn der Pandemie gab es kaum Informationen in anderen Sprachen, offizielle Hotlines setzen meist Deutschkenntnisse voraus. Viele Anlaufstellen mussten ihre Angebote reduzieren oder ganz schließen, berichtet Klaus Walraf von der Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung, die sonst in 20 Städten arbeitet.
Teils lasse sich in den Räumlichkeiten der nötige Abstand nicht einhalten oder die Ehrenamtlichen zählen aufgrund ihres Alters selbst zur Hochrisikogruppe. Das führe zu Versorgungslücken, in Duisburg etwa versorgten die Malteser sonst sehr viele Menschen. In Hamburg konnte man kürzlich wieder öffnen, vereinzelt mache man Abstriche für Tests.
In einem offenen Brief an den Krisenstab der Bundesregierung forderten im März mehr als 40 NGOs "dringende Sofortmaßnahmen": die Übernahme der Kosten für die Diagnostik und Behandlung von COVID-19 für alle Menschen - bei Bedarf anonym - und ein Verbot der Weitergabe von Patientendaten an die Ausländerbehörde. Eine Antwort blieb aus.
Tests: Im Prinzip ja, aber es droht die Abschiebung
Auf Nachfrage der DW teilt das Bundesinnenministerium mit, eine Änderung der Übermittlungspflicht von Daten an Ausländerbehörden sei "nicht angezeigt". Eine Sprecherin argumentiert: "Eine umfassende medizinische Versorgung ist für die betreffende Personengruppe im Übrigen auch bei Behandlungen, die im Zusammenhang mit einer Erkrankung wegen COVID-19 stehen, gewährleistet."
Das erleben Praktiker anders – und das schon bei Tests, erläutert Stephanie Kirchner von der Hilfsorganisation Ärzte der Welt der DW: Zwar würden rein rechtlich über das Asylbewerberleistungsgesetz die Kosten der Testung übernommen. "De facto kann sie - außer im Notfall - nicht wahrgenommen werden, weil vorher die Kostenerstattung in Form eines Krankenscheins beim Sozialamt beantragt werden müsste. Das Sozialamt ist als Behörde nach §87 Aufenthaltsgesetz zur Meldung bei der Ausländerbehörde verpflichtet. Damit droht die Abschiebung."
Chronisch Kranke brauchen Medikamente
Viele Menschen ohne Papiere hätten noch mehr Sorge als sonst, überhaupt auf die Straße zu gehen, berichten die Psychologinnen Maria Hummel und Hanna Schuh vom Medibüro Berlin: "Die Angst davor, von der Polizei kontrolliert zu werden, ist massiv gestiegen." Ehrenamtliche der Medibüros vermitteln Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus an kooperierende Ärzte und Kliniken. Viele leiden unter chronischen Erkrankungen: Ein Mann aus Togo braucht als Diabetiker regelmäßig Insulin, eine Frau aus Serbien ist auf blutdrucksenkende Mittel angewiesen. Ohne Medikamente ist ihr Leben gefährdet, eine Infektion mit dem COVID-19-Erreger wäre für sie besonders gefährlich.
Trotz bundesweiter und internationaler Vorstöße, so warnten 35 Medibüros und -netze in einem weiteren offenen Brief im April, "sind in Deutschland bis heute weder Kostenübernahme, Zuständigkeit noch Verfahrensweise für unversicherte Menschen verbindlich geregelt. Das ist grob fahrlässig". Menschen mit chronischer oder akuter Erkrankung blieben unversorgt. Die Unterzeichner fordern die Aufnahme aller Menschen in die gesetzliche Krankenkasse und die Abschaffung der Übermittlungspflicht an die Ausländerbehörden.
"Auch Menschen ohne Papiere sind Teil der deutschen Bevölkerung", begründen wenig später 27 Bundestagabgeordnete der Linkspartei ihre Forderung nach einer finanziellen Corona-Hilfe, einer Generalamnestie und Legalisierung für alle Menschen ohne legalen Aufenthalt. Mitte Mai schließen sich SPD-Politiker der AG Migration und Vielfalt der Forderung von Flüchtlingshilfsorganisationen nach Gesundheitskarten für alle an: "Neben der humanitären Verpflichtung ist auch klar, dass die nicht angezeigte Infektion eines Einzelnen die Ansteckung vieler weiterer Menschen zur Folge haben kann."
Berlin: Anonyme Behandlung beim Hausarzt
In Berlin können Menschen ohne Krankenversicherung sich seit kurzem kostenlos und anonym von Hausärzten behandeln lassen - nach Beratung bei der Clearingstelle. Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci betont: "Gerade in Zeiten einer Pandemie ist der Zugang zur gesundheitlichen Versorgung für alle Menschen von erheblicher Bedeutung."
Nach den Erfahrungen von Ärzte der Welt sind damit aber nicht alle Probleme gelöst, stellt Stephanie Kirchner fest: "Das verschafft potentiell einen besseren Zugang. Aber es scheint Kapazitätsprobleme in der Clearingstelle und Akzeptanzprobleme bei den Hausärzten zu geben."
Im Bundesland Thüringen gibt es einen anonymisierten Krankenschein. Auf Fragen nach einer bundesweiten Lösung im Sinne des Infektionsschutzes teilt das Bundesgesundheitsministerium der DW mit, für die Organisation von Gesundheitsleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz seien die Bundesländer zuständig.
Wenig Kontakte und Abstand? Keine Chance
Das Team der Praxis Andocken in Hamburg will weiterarbeiten, solange alle gesund bleiben. "Wer soll sonst für diese Menschen sorgen?", fragt Gynäkologin Teresa Steinmüller, die mit 67 Jahren selbst zur Risikogruppe gehört. Viele ihrer Patientinnen seien gefährdet.
Eine Schwangere aus Ghana wurde HIV-positiv getestet. Über sie sprach die Hebamme Maike Jansen mit einer Infektiologin. Die riet dringend, dass die junge Frau sich in der Corona-Pandemie vor zu engen Kontakten schützen solle.
Das kann sie gar nicht, sagt Maike Jansen: Mitglieder einer Kirchengemeinde nehmen sie abwechselnd auf. Sie schläft immer da, wo noch Platz für eine Matratze ist. Sie hat weder die Chance, ihre Kontakte zu beschränken, noch Abstand zu wahren. "Erst war sie stark", erzählt die Hebamme, "irgendwann hat sie geweint".