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Politik

Orbáns "Ermächtigungsgesetz" spaltet Europa

2. April 2020

Während 13 westliche EU-Länder mit einer diplomatischen Erklärung vor der Einschränkung der Demokratie warnen, reagieren einige mitteleuropäische Nachbarn differenzierter auf das ungarische Corona-Notstandsgesetz.

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Ungarn Premierminister Viktor Orban
Premierminister Orbán im ungarischen ParlamentBild: picture-alliance/AP/MTI/Z. Mathe

Ungarns Regierung stand schon lange nicht mehr so in der internationalen Kritik wie derzeit. Nach der Verabschiedung des sogenannten "Coronavirus-Gesetzes", von der ungarischen Opposition als "Ermächtigungsgesetz" bezeichnet, äußerten sich europäische und US-amerikanische Politiker mit vernichtenden Urteilen: Die einen sprachen vom Beginn der Diktatur in Ungarn, andere verglichen die Politik des Premiers Viktor Orbán mit einer Epidemie, wiederum andere forderten strenge EU-Sanktionen gegen Ungarn.

Eine bislang beispiellose Reaktion kam von dreizehn EU-Staaten, darunter auch Deutschland: In einer diplomatischen Erklärung der Außenministerien warnen sie davor, im Zuge der Corona-Krise demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien oder andere Grundrechte zu verletzen und dauerhaft einzuschränken. Als einziges osteuropäisches EU-Mitglied schloss sich Lettland der Erklärung inzwischen an. Ungarn wird in ihr zwar nicht nominell erwähnt - dennoch ist aus dem Kontext herauszulesen, dass das ungarische Notstandsgesetz Anlass der Erklärung ist. Zwischenzeitlich äußerte sich auch die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen "besorgt" über das neue ungarische Gesetz, nachdem sie Kritik vor zwei Tagen noch allgemein und ohne Nennung Ungarns formuliert hatte.

"Originelle" Reaktionen in Budapest

In Ungarn reagiert die Orbán-Regierung bisher vergleichsweise gelassen und teils sogar originell auf die massive Kritik. In einer Stellungnahme der Regierung heißt es: "Wir stimmen voll und ganz der Erklärung der dreizehn Mitgliedstaaten von gestern zu, dass wir in dieser Zeit mit ihren vielen Herausforderungen die Werte von Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten bewahren und schützen müssen." Zugleich bemängelt die ungarische Regierung, dass die Erklärung vor ihrer Veröffentlichung nicht allen Mitgliedstaaten zur Unterzeichnung vorgelegt wurde. Eine Anfrage der DW an die ungarische Regierung, ob Ungarn die Erklärung im Nachhinein unterschreiben werde, blieb unbeantwortet.

Ausländische Kritik am Notstandsgesetz in sachlichem Ton als nicht von Fakten gedeckt und daher falsch und ungerechtfertigt zu bezeichnen - das scheint bisher die Linie zu sein, die Orbán ausgegeben hat. Zumindest in dieser Weise wiesen die Justizministerin Judit Varga und weitere Regierungsmitglieder Kritik zurück. Anders handhabt es der Regierungssprecher Zoltán Kovács in seinem Blog abouthungary.hu, in dessen Einträgen er oft gegen ausländische Medien polemisiert. Einen kritischen Meinungsbeitrag in der "New York Times" kommentierte er mit den Worten: "Ungarische Menschenleben zu retten ist außerhalb Ungarns ganz klar keine Priorität."

Der Publizist Zsolt Bayer, ein enger Freund Orbáns, Mitbegründer von dessen Partei Fidesz und für seine wüsten und menschenfeindlichen Texte bekannt, schrieb im Fäkalstil über Kritik am Notstandsgesetz, die er als "Soros-Effekt" bezeichnet. In Anspielung auf den US-Börsenmilliardär George Soros und sein Konzept der offenen Gesellschaft übertitelte er seinen kaum zitierfähigen Artikel: "Die Welt als offener Abort". Soros bezeichnet er darin als "abgewrackten, dementen, schrecklich ekelhaften Greis".

Kritik lässt die die Regierung Orbán gleichgültig

Jenseits solcher Stimmen scheine die Regierung "momentan eher gleichgültig gegenüber der Kritik aus dem Ausland, nicht überrascht und auch nicht erschüttert", sagte der regierungskritische Politologe Attila Tibor Nagy vom Budapester Méltányosság-Institut der DW. Das liege vielleicht auch daran, dass die Kritik inhaltlich nicht neu sei, lediglich ihre Form, wie etwa eine diplomatische Erklärung von 13 EU-Staaten, sei neu. "Die Orbán-Regierung kümmert sich jetzt mehr um die wirtschaftlichen Folgen der Epdiemie für Ungarn, als um Kritik", so Nagy.

Der regierungsnahe Politologe Ágoston Mráz vom Budapester Nezöpont-Institut sagte der DW, die Regierung müsse die aktuelle Kritik nicht fürchten, weil sie unbegründet sei. Mráz glaubt, die Regierung werde am Ende innenpolitisch sogar profitieren. "Im Allgemeinen stärken ungerechte Angriffe auf Ungarn das Fidesz-Wählerlager. Wenn die Regierung die Epidemie gut managt und wenn sich dann herausstellt, dass die internationale Kritik unberechtigt war, dann kann Fidesz daraus für die Wahl im April 2022 einen Gewinn ziehen", so Mráz.

Nachdenkliche Töne bei den Nachbarn

In den osteuropäischen Nachbarländern Ungarns, in denen überwiegend ebenfalls rechtskonservative und rechtsnationalistische Regierungen im Amt sind, beobachtet man die Debatte um das ungarische Notstandsgesetz mit großer Aufmerksamkeit. Der slowakische Politologe Grigorij Mesežnikov vom Institut für öffentliche Angelegenheiten in Bratislava sagte der DW, er halte die Kritik an Ungarn für verständlich, da Ungarn bei der Überschreitung der Regeln von Demokratie und Rechtsstaat in der EU am weitesten gehe. Sanktionen gegen Ungarn, wie sie einige westliche EU-Politiker fordern, hält er jedoch nicht für angebracht. "Ungarn ist kein Aggressor wie Russland", sagt Mesežnikov. "Die Debatte um Sanktionen in EU-Staaten ist berechtigt, aber ich wäre sehr vorsichtig damit, weil Sanktionen gegen Ungarn einen starken Schaden in der ganzen Region anrichten würden."

Der tschechische Politologe Jakub Janda vom Prager Think Tank "Europäische Werte" plädierte gegenüber der DW hingegen dafür, dass die EU einen neuen Sanktionsmechanismus einführt: Entzug von EU-Geldern bei Nichtbeachtung bestimmter EU-Regeln und -Werte. "Es ist völlig richtig, wenn europäische Regierungen ihre Kritik an der Orbán-Regierung laut und klar äußern, denn sie unterminiert das liberale, demokratische Regierungsmodell der EU, das sie beim Beitritt ja akzeptiert hat, konstant. Außerdem ist Ungarn einer der besten Verbündeten Russlands und Chinas in der EU, was in anderen EU-Ländern zu einem Vertrauensverlust in den ungarischen Staat geführt hat", so Janda.

Ähnlich sieht es auch die rumänische Bürgerrechtlerin Smaranda Enache, die Ko-Vorsitzende der Vereinigung "Liga Pro Europa" ist und sich seit drei Jahrzehnten im rumänisch-ungarischen Dialog engagiert. Sie sagte im DW-Gespräch, die Erklärung der dreizehn EU-Mitgliedstaaten solle und müsse auch ein Signal für die EU als Institution sein, sich vernehmbarer gegenüber autoritären Tendenzen in einzelnen Mitgliedstaaten zu positionieren. "Die EU muss die Situation von Demokratie und Rechtsstaat in allen Ländern überwachen", fordert Smaranda Enache. "Ansonsten wird sich das Orbán-Modell in der EU immer mehr verbreiten."

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Keno Verseck Redakteur, Autor, Reporter