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Politik

Coronavirus in Mexiko: Leben oder Sterben

Sandra Weiss Pueblo/Mexiko
17. April 2020

Ein amtlicher Leitfaden zur Triage von COVID-19-Notfällen stößt in Mexiko auf heftige Kritik. In dem Dokument geht es darum, nach welchen Kriterien entschieden wird, ob ein Patient ein Beatmungsgerät bekommt oder nicht.

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Coronavirus Crisis - Mexico City
Bild: picture-alliance/dpa/abaca/R. Castelan

Erst gerade hat Mexiko seine Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus bis zum 30. Mai verlängert. Dies habe ein Expertenkomitee der Regierung empfohlen, erklärte Vize-Gesundheitsminister Hugo López-Gatell am Donnerstag. Zu den Maßnahmen, die zunächst bis zum 30. April vorgesehen waren, gehört die Schließung von Schulen und von als nicht essentiell eingestuften Betrieben. Den Menschen in dem nordamerikanischen Land wird zudem empfohlen, zu Hause zu bleiben und von einander Abstand zu halten - verbindlich sind diese Schritte jedoch nicht.

Verbindlich soll allerdings ein neues Dokument zum Umgang mit dem Coronavirus in Mexiko sein. Es trägt den sperrigen Namen - Projektleitfaden zur Triage und Ressourcenzuweisung in der Intensivmedizin - und sorgt derzeit für viel Ärger im Land. Auch, weil noch nicht geklärt ist, ob das, was darin steht, rechtens ist. In dem Dokument geht es um die heikle Frage, welcher Patient im Falle einer Überlastung des Krankenhauses, ein Beatmungsgerät bekommt und wer nicht.

Ein Punktesystem entscheidet

"Wir spielen jetzt Gott", umschrieb der politische Kommentator Miguel Angel Verdugo im "Imagen Radio" den Inhalt des vorgelegten Punkteplans. Das 13-seitige Dokument stammt aus der Feder des dem Präsidenten unterstellten Rates für öffentliche Gesundheit.

Virus Outbreak Mexico
Die mexikanische Regierung hat Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger dazu aufgerufen, sich zu melden, um das öffentliche Gesundheitssystem zu unterstützenBild: picture-alliance/AP Images/E. Verdugo

Dabei geht es vor allem darum, zwei Fragen in einem Punktesystem miteinander abzugleichen. Das eine ist die Überlebenschance eines Patienten, das andere ist die Lebenserwartung. Je älter der Patient und je mehr Vorerkrankungen, desto höher die Punktzahl und desto geringer die Chance auf ein Beatmungsgerät. Bei Schwangeren zum Beispiel gilt es mindestens zwei Leben zu retten - sie haben größere Chancen, ein Beatmungsgerät zu bekommen, wenn sie eines benötigen.

Absoluten Vorrang hat aber infiziertes und stark erkranktes medizinisches Personal, sofern es direkt an der Bekämpfung der Pandemie beteiligt ist. In dem Punktesystem spielen weder Religion, wirtschaftlicher Status, Nationalität, Geschlecht, Behinderung, politische Gesinnung noch der Zeitpunkt des Eintreffens eine Rolle, heißt es. Auch, ob der Patient versichert sei oder nicht, spiele keine Rolle. Sollte es bei zwei Patienten zu einer Punkte-Patt-Situation kommen, so steht auf Seite neun des Dokuments geschrieben, entscheidet der Zufall. Das bedeutet: Das Überleben hängt von Kopf oder Zahl ab.

Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Der Rektor der staatlichen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM) und Arzt, Enrique Graue, der eigentlich laut Statut auch Mitglied des Gesundheitsrates ist, distanzierte sich umgehend. Er sei zur Sitzung über die Prüfung und Abstimmung des Leitfadens nicht eingeladen worden.

Mangel an Beatmungsgeräten

Von einer "Schande" sprach Laurie Ann Ximénez, Professorin für Mikrobiologie. "Das ist ein Dokument für die Kriegsmedizin. Das hätte man vermeiden können, wenn unsere Regierung so umsichtig reagiert hätte wie die in Taiwan. Dort müssen sie sich nicht um die Anzahl der Krankenhausbetten und Beatmungsgeräte sorgen", kritisierte Ximénez.

Mexikos staatliches Gesundheitssystem verfügt offiziellen Zahlen zufolge über 6175 Beatmungsgeräte und 4291 Intensiv-Betten, 3000 weitere Betten will der Privatsektor bereitstellen. Derzeit sind laut Johns-Hopkins-Universität knapp 6000 Menschen mit dem Coronavirus infiziert, 449 Personen sind bereits gestorben. In den kommenden Wochen könnten offiziellen Schätzungen zufolge bis zu 10.500 COVID-19-Erkrankte Intensivmedizin benötigen.

Mexiko Coronavirus  López Obrador
Mexikos Präsident wird für den Punkteplan heftig kritisiert Bild: picture-alliance/AP Photo/M. Ugarte

Zum Schutz der Ärzte?

Kommentator Verdugo äußerte im Radio die Vermutung, der Leitfaden solle vor allem dazu dienen, Ärzte vor Klagen zu schützen. Doch auch dazu sei er nicht geeignet, gibt die Journalistin Surya Palacios zu bedenken.

Das Dokument habe keinen offiziellen Briefkopf und sei wegen zahlreicher Formverstöße nicht rechtskräftig. "Dies ist erneut ein irregulärer Akt einer direkt dem Präsidenten unterstellten Institution", schreibt die Journalistin im Portal "Alto Nivel". Solche Entscheidungen müsse die Justiz treffen.

Hohe Zahl an erkranktem Personal

Eine weitere Frage ist, wie praktikabel das niedergeschriebene Punktesystem ist. Dafür sollen dreiköpfige Triage-Teams gebildet werden, die auch über Einsprüche von Angehörigen entscheiden sollen. Doch Mexikos Gesundheitssystem ist jetzt schon am Rande seiner Kapazitäten. Über 300 Ärzte und Pfleger sind bereits an COVID-19 erkrankt.

Für das Image von Präsident Andrés Manuel López Obrador ist der Leitfaden ein erneuter Tiefpunkt. López Obrador verkündet seit Wochen, Mexiko sei bestens auf die Pandemie vorbereitet, und die älteren Menschen seien eine Priorität seiner Regierung. Doch der Punkteplan zeigt genau das Gegenteil. 

Vize-Gesundheitsminister Hugo López-Gatell spielte das Ganze vor Journalisten herunter: Ethische Leitfäden seien nichts Neues, sagte er. Man habe sie nur der COVID-19-Pandemie angepasst. Dieser Leitfaden komme auch nur zur Anwendung, wenn die Kapazitätsgrenzen erreicht seien und es nicht möglich sei, Patienten an andere Einrichtungen zu überstellen, sagte López-Gatell.

"So weit hat uns die Pandemie gebracht. Hoffen wir, dass der Leitfaden so selten wie möglich angewendet wird", schrieb der Journalist Enrique Pérez Quintana. "Aber wenn wir die letzten Wochen Revue passieren lassen, wo sich die Menschen auf Märkten drängten, Jugendliche heimliche Corona-Parties feierten oder viele einfach trotzdem weiter auf die Straße gingen, obwohl sie das nicht mussten, dann bleibt den Ärzten vielleicht gar nichts anderes übrig."