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Countrysong von Newcomer Oliver Anthony spaltet die USA

Louisa Schaefer
24. August 2023

Oliver Anthony landet mit "Rich Men North of Richmond" einen Überraschungserfolg in den US-Charts. Rechte und Linke beanspruchen nun seine wütenden Botschaften für ihre Zwecke.

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Ein Mann mit Gitarre und Sonnenbrille singt in ein Mikrofon
Begeistert viele Fans in den USA: Der Country-Sänger Oliver Anthony sang sich mit seinem Lied "Rich Men North of Richmond" an die Spitze der US-Billboard-ChartsBild: Kendall Warner/The Virginian-Pilot/AP/picture alliance

Bis vor kurzem war Oliver Anthony noch ein unbekannter Country-Sänger aus dem ländlichen Virginia im Osten der USA. Dann eroberte sein Lied "Rich Men North of Richmond" (Reicher Mann nördlich von Richmond) quasi über Nacht die US-amerikanischen Billboard Hot 100 Single-Charts. Mehr noch: Anthonys Titel ließ dabei Megastars wie Taylor Swift, Morgan Wallen oder Olivia Rodrigo alt aussehen. Ein "beispielloser”, weil raketenhafter Aufstieg, wunderte sich das Musikmagazin Billboard. Erstmals habe sich ein Künstler ohne jegliche Vorgeschichte an die Spitze der Charts gesungen. Was war da los? 

Die Zahlen sprechen für sich: In weniger als einer Woche nach der Veröffentlichung auf YouTube am 8. August wurde Anthonys Song über 17,5 Millionen Mal gestreamt und 147.000 Mal heruntergeladen, rechnet Billboard vor. Ganz nebenbei toppte Anthony auch die Country-Charts von Apple. Und bis Mittwoch, 23. August, wurde der Song über 34 Millionen Mal auf dem RADIOWV-YouTube-Kanal aufgerufen.

Zwei vollbärtige Männer mit Gitarren auf der Bühne
Rotschöpfig, vollbärtig, so tritt Oliver Anthony vor sein Publikum. Bild: Kendall Warner/The Virginian-Pilot/AP/picture alliance

Singt Anthony die neue Hymne der US-Arbeiterklasse? Manche interpretieren das so, denn ganz offensichtlich trifft der rothaarige, vollbärtige Barde einen Nerv bei den vermeintlich Entrechteten in den Vereinigten Staaten, wenn er singt: "Ich habe meine Seele verkauft, den ganzen Tag gearbeitet, Überstunden für einen Scheißlohn, damit ich hier draußen sitzen und mein Leben vergeuden kann." Unüberhörbar auch Anthonys Globalisierungskritik: "Es ist eine verdammte Schande, was aus der Welt geworden ist, für Leute wie mich, für Leute wie dich, ich wünschte, ich könnte einfach aufwachen und es wäre nicht wahr." 

Begleitmusik zu den US-Wahlen?

Antony's Song wirkt wie die Begleitmusik zum Auftakt der US-Präsidentschaftswahlen im November 2024. Der demokratische Präsident Biden liebäugelt mit einer zweiten Amtszeit. Republikanischer Herausforderer möchte Ex-Präsident Donald Trump werden. Die Vereinigten Staaten sind politisch gespalten wie nie. Wie einst Donald Trump hat Sänger Anthony nun die Herzen von Millionen von Menschen erobert, indem er die politische Elite ins Visier nimmt: "Diese reichen Männer nördlich von Richmond...sie wollen die totale Kontrolle haben, wollen wissen, was du denkst, wollen wissen, was du tust..."

Damit nicht genug: Anthony macht sich auch über Benachteiligte in den USA lustig, und schürt - wie einst schon Trump - den Neid auf die Empfänger staatlicher Leistungen: "Herr, wir haben Leute auf der Straße, die nichts zu essen haben - und die fettleibigen Sozialhilfeempfänger (...) Die Steuern sind nicht für eure Tüten mit Karamellbonbons da!" Menschen, die Geld vom Staat erhalten, so Anthonys Botschaft, nutzen das System aus. In den USA denken viele Menschen so.

Ein Mann trägt ein T-Shirt mit dem Schriftzug: In Oliver we trust (Wir glauben an Oliver)
Olivers Botschaften wirken: ein Mann trägt ein T-Shirt mit dem Schriftzug: In Oliver we trust (Wir glauben an Oliver)Bild: Kendall Warner/The Virginian-Pilot/AP/picture alliance

Titel und Text des Liedes bringen auch zum Ausdruck, dass Amerikaner vor allem im Süden und in den armen, ländlichen Gebieten der USA von den Machthabern im Stich gelassen würden. Auch das klingt verdächtig nach den populistischen Wahlkampfparolen eines Donald Trump, der von 2017 bis 2021 der 45. Präsident der Vereinigten Staaten war.  

Ein Typ mit Gitarre und seinen Hunden 

"Rich Men North of Richmond" heißt Anthonys Hit. Richmond ist die Hauptstadt des US-Bundesstaates Virginia, in dem Anthony wohnt, nur wenige Autostunden südlich der US-Hauptstadt und des politischen Zentrums Washington, D.C.

Nach Darstellung des YouTube-Kanals "RADIOWV”, der Anthonys Songs bereitstellt, lebt Anthony in der Kleinstadt Farmville, "mit seinen drei Hunden und einem Stück Land, das er in eine kleine Farm umwandeln will, um Vieh zu züchten."  Farmville liegt in der einst ältesten und größten Industrieregion der USA. Der Niedergang der Stahlindustrie in den 1970ger-Jahren hat aus dem "Manufacturing Belt" den "Rost-Belt” (Rostgürtel) werden lassen. Viele Menschen wurden arbeitslos. Anthony lebt nach Medienberichten in einem Wohnwagen. Im Video zu "Rich Men of Richmond" sieht man ihn in einem Wald singen, mit einer Jagdhütte in einem Baum im Hintergrund und einem Campingstuhl an der Seite. 

Anthony selbst bezeichnet den Country-Musiker Hank Williams Jr. als sein musikalisches Vorbild. RADIOWV schreibt auf YouTube: "Oliver möchte der Arbeiterklasse und dem durchschnittlichen, hart arbeitenden jungen Mann, der vielleicht die Hoffnung verloren hat, Hoffnung geben." 

Politiker greifen Anthonys Botschaft auf

Im politischen Washington fällt Anthonys Botschaft auf fruchtbaren Boden, erste Politiker erkennen das politische Potential des Songs. Die republikanische Kongressabgeordnete Marjorie Taylor Greene aus dem südlichen Bundesstaat Georgia etwa, die in der Vergangenheit rechtsextreme Verschwörungstheorien unterstützt hat, schrieb auf der Plattform X (vormals Twitter), Anthonys Lied sei eines, "das Washington D.C. hören muss".

Der demokratische Senator Chris Murphy aus dem nordöstlichen Bundesstaat Connecticut forderte die Linken auf, Anthonys Aufruf zu beherzigen. Ebenfalls auf X verlangte er, dass "Progressive sich das anhören sollten." Der Song zeige einen "Weg der Neuausrichtung" auf: "Anthony singt über die Seelenlosigkeit der Arbeit, Scheißlöhne und die Macht der Eliten. Alles Probleme, für die die Linken bessere Lösungen haben als die Rechten", so Murphy. 

Anthony selbst verortet sich politisch "ziemlich genau in der Mitte". Bei einem Konzert am Samstag, 19. August in North Carolina sagte er dem Sender Fox News: "Ich glaube nicht, dass unser Land noch eine weitere Generation überleben wird, so wie es jetzt läuft. Wir müssen zu den Wurzeln dessen zurückkehren, was dieses Land einst groß gemacht hat." 

Anthony will nicht das große Geld

Der Country-Sänger und ehemalige Fabrikarbeiter heißt eigentlich Christopher Anthony Lunsford. Als Künstlernamen hat er den Namen seines Großvaters "Oliver Anthony" angenommen. Seit 2021 schreibt er Musik. Aber trotz seiner großen Popularität hat er es nicht eilig, einen Plattenvertrag zu unterschreiben: "Die Leute in der Musikindustrie starren mich mit leeren Augen an, wenn ich Acht-Millionen-Dollar-Angebote ablehne", schrieb er auf Facebook und sagte, er wolle nicht auf große Tourneen gehen. 

Fans bei einem Konzert von Oliver Anthony unter freiem Himmel
Fans bei einem Freiluftkonzert von Oliver AnthonyBild: Kendall Warner/The Virginian-Pilot/AP/picture alliance

 "Ich will nicht im Rampenlicht stehen. Ich habe die Musik geschrieben, die ich geschrieben habe, als ich unter Depressionen litt.” Seine Songs hätten Millionen von Menschen erreicht, weil der, der sie singt, die Worte in diesem Moment so fühle. "Keine Bearbeitung, keine Agenten, kein Bullshit. Nur ein Idiot und seine Gitarre", schrieb er in seinem Facebook-Post vom 17. August. Tatsächlich singt der etwa 30-Jährige mit Hingabe allein zur Gitarre.

Die Wirkung seines Songs blieb indes nicht aus: Der britische Musiker Billy Bragg, früher Punk-, jetzt Folksänger, fand am 21. August auf YouTube seine ganz eigene Antwort auf Anthonys "Rich Men". Er veröffentlichte, wie die Zeitung Guardian berichtete, einen "korrigierenden" Antwortsong” - "Rich Men Earning North of a Million." Anstatt auf "übergewichtige Sozialhilfebetrüger" einzuschlagen, singt Bragg, solle man seine Wut doch auf wichtige Ziele richten. "Wir werden nicht auf diejenigen einschlagen, die Verständnis und Solidarität brauchen - das ist nicht richtig.” Seinem US-Kollegen legt Bragg ans Herz, einer Gewerkschaft beitreten, um eine "produktive Form des Protests" zu finden.

Aus dem Englischen adaptiert von Stefan Dege.