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CTE - wenn das Sportler-Hirn langsam abstirbt

9. November 2023

In einigen Staaten wird seit Jahren intensiv über das Risiko der Gehirnkrankheit CTE in Kontaktsportarten diskutiert, in Deutschland allenfalls verhalten. Mehr Aufmerksamkeit wäre allerdings gerechtfertigt.

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American-Football-Profi Zach Collaros liegt mit verschobenem Helm am Boden und hält den Ball fest.
Wissenschaftler warnen vor Langzeitfolgen von Kopferschütterungen in Kontaktsportarten - wie hier im American FootballBild: John Woods/Canadian Press/empics/picture alliance

"Immerhin lebe ich noch", sagt Erich Grau. "Wenn ich auf den Friedhof gehe, denke ich: Jetzt liegen sie da unten. Sechs bis acht frühere Footballer, früh gestorben, keine 60 Jahre alt, in ihren letzten fünf Lebensjahren vollkommen von der Rolle. Das ist schwer auszuhalten." Grau ist 68 Jahre alt. Er gehörte zu den Pionieren des American Football in Deutschland: Er war Gründungsmitglied des bayerischen Vereins Ansbach Grizzlies, spielte 1979 in der ersten Saison der damaligen Bundesliga und war 1981 der erste Starting Quarterback einer deutschen Nationalmannschaft.

Heute redet er als bislang einziger früherer Profisportler in Deutschland öffentlich über seine mutmaßliche Erkrankung: Chronische Traumatische Enzephalopathie (CTE) – jene Krankheit, an der wohl auch der im August verstorbene deutsche Box-Star René Weller litt. 

Ex-Football-Profi Erich Grau
Ex-Football-Profi Erich GrauBild: privat

Ob er wirklich CTE hat, wird Grau zu Lebzeiten wohl nicht mehr erfahren. Bislang lässt sich die Krankheit erst nach dem Tod durch eine Autopsie des Gehirns eindeutig diagnostizieren. Doch Grau durchlebt seit über 20 Jahren die Symptome, die Wissenschaftler mit CTE in Verbindung bringen. Sein Gedächtnis wird immer schwächer. Gespräche mit Fremden verlegt er auf den Vormittag, weil er sich in der zweiten Tageshälfte kaum noch konzentrieren kann. "Mir ist auch immer häufiger schwindlig", sagt Grau der DW. "Auf dem MRT [Magnetresonanztomographie - Anm. d. Red.] ist zu sehen, dass mein Gehirn in allen Bereichen atrophiert [schrumpft]." Seit dem vergangenen Sommer habe er zudem verstärkt Schwierigkeiten, seine Bewegungen zu koordinieren, so der frühere Footballer: "Ich weiß, dass es nicht mehr besser wird. Aber ich versuche das zu halten, was ich noch habe."

Höheres Suizidrisiko

Mit 45 Jahren hatte der damalige Gymnasiallehrer erstmals bewusst registriert, dass er sich kaum noch konzentrieren konnte. Für ihn untypisch, war er plötzlich aufbrausend und aggressiv. Aus Studien weiß man, dass sich in einem frühen Stadium der Krankheit die Persönlichkeit extrem verändern kann: Das Suizidrisiko steigt, auch Gewaltausbrüche sind möglich. So nahm sich die australische Football-Spielerin Heather Anderson im November 2022 mit 28 Jahren das Leben. Philipp Adams, ein früherer Profi der National Football League (NFL), erschoss im April 2021 sechs Menschen und danach sich selbst. Bei den Obduktionen der Gehirne von Anderson und Adams wurde jeweils CTE diagnostiziert.

Mittlerweile gibt es rund 350 zweifelsfrei bestätigte CTE-Fälle bei Ex-Spielern der NFL. Auch in anderen Kontaktsportarten wie Rugby, Eishockey, Fußball, Boxen oder Martial Arts wurde die Krankheit bei verstorbenen Aktiven nachgewiesen. Ihre Gehirne waren deutlich verkleinert. Zudem fanden sich in der äußersten Schicht des Großhirns ganze Klumpen sogenannter Tau-Proteine. Diese winzigen Eiweißbausteine stabilisieren eigentlich die Nervenzellen. Bei ruckartigen Bewegungen des Gehirns besteht die Gefahr, dass sich die Proteine falsch falten. Dadurch kann die Nervenzelle so stark geschädigt werden, dass sie abstirbt. Es kann zu einer Kettenreaktion kommen. Wie alle sogenannten neurodegenerativen Krankheiten, zu denen auch Alzheimer oder Parkinson zählen, ist CTE bisher nicht heilbar. Lediglich einzelne Symptome lassen sich behandeln.

Keine "Sports Brain Bank" in Deutschland

In den USA, Australien und Neuseeland - Staaten, in denen Football und Rugby besonders populär sind - gibt es inzwischen sogenannte "Sports Brain Banks". Dort werden Spendergehirne verstorbener Aktiver gezielt gesammelt und untersucht. "Es wäre für mich ein Traum, wenn wir auch in Deutschland eine auf CTE spezialisierte 'Sports Brain Bank' hätten, zu der man mein Gehirn nach meinem Tod ohne großen Aufwand bringen könnte", sagt Grau. 

Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) baut zwar derzeit eine "Brain Bank" mit Standorten in mehreren deutschen Städten auf. Hauptgrund: Es fehlt den Hirnforschenden generell an Gewebematerial. Die Deutschen gelten im internationalen Vergleich als eher zurückhaltend, wenn es um Organspenden geht. Mangels Masse wäre eine Spezialisierung einer "Brain Bank" auf Sport und CTE daher allenfalls der übernächste Schritt. 

Auch viele kleine Schläge gegen den Kopf sind gefährlich

Erich Grau (r.) als Football-Profi im Jahr 1983
Erich Grau (r.) als Football-Profi im Jahr 1983Bild: privat

Das Krankheitsbild von CTE war als Dementia pugilistica (Boxer-Demenz) oder auch Punch-Drunk-Symptom bereits in den 1920er Jahren bekannt. Schon damals ging man davon aus, dass schwere Schläge an den Kopf das Gehirn nachhaltig schädigen können. Heute weiß man, dass auch regelmäßige kleinere Schläge oder Stöße gegen den Kopf - unterhalb der Schwelle einer Gehirnerschütterung - schwerwiegende Folgen haben können.

"Wenn man diese Kopferschütterungen über viele Jahre anhäuft, führen sie zu ähnlichen neurodegenerativen Prozessen wie Schädeltraumata", sagt Inga Körte, Professorin für Neurobiologie an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München und der Harvard Medical School in Boston. "Das hat die Forschung in den vergangenen zehn Jahren in unterschiedlichen Sportarten, Altersgruppen und Ländern festgestellt. Das sind robuste Ergebnisse." Für die sich in Deutschland aber offenbar kaum jemand interessiert.

Lieber "Held von damals" sein

Körte, die bereits seit 2009 CTE erforscht, geht auch in Sportvereine, um Eltern über die möglichen Spätfolgen von Kopferschütterungen zu informieren. "Bei einem großen Fußballverein, dessen Namen ich nicht nennen will, kam nur ein einziger interessierter Vater", sagt Körte der DW. "Es ist offensichtlich noch kein Thema, mit dem sich hierzulande Eltern im Hochleistungssport beschäftigen."

Es gehe ihr nicht nur um die eher seltene Krankheit CTE, sagt die Wissenschaftlerin. Andere Demenzerkrankungen wie Alzheimer oder auch Depressionen seien nicht weniger schlimm. "Es geht um Hirngesundheit im Ganzen. Verträgt es das Gehirn, wenn man es permanent erschüttert? Vermutlich ist die Antwort nein. Oder manche Gehirne vertragen es vielleicht, aber nicht alle." Das müsse erforscht werden, nicht nur, wie bisher, vorrangig im Profibereich, sondern auch im Breitensport. Nicht nur bei Sportlern, sondern auch bei Sportlerinnen.

Ein NFL-Profi wird mit Verdacht auf eine Kopfverletzung abtransportiert
Ein NFL-Profi wird mit Verdacht auf eine Kopfverletzung abtransportiertBild: Justin K. Aller/Getty Images

Erich Grau schätzt, dass "sicher ein Viertel" seiner Football-Kollegen von einst derzeit geistig "extrem abbaut". Bei Ehemaligen-Treffen werde trotzdem um das Thema CTE ein großer Bogen gemacht, sagt Grau: "Die wollen lieber die Helden von damals sein, als diese Krankheitssymptomatik ernst zu nehmen."

Von Kopfballverbot bis High-Tech-Mundschutz

Einige Kontaktsportarten haben auf die alarmierenden Forschungsergebnisse reagiert. Die NFL verschärfte ihre Regeln für das Tackling. In der neuen Sportart Flag Football wird sogar ganz darauf verzichtet, den Gegner zu Fall zu bringen. Im Fußball der USA gilt seit 2015 ein Kopfballverbot für Kinder bis zum Alter von zehn Jahren. In England und Schottland ist Kopfballtraining vor dem zwölften Lebensjahr untersagt. In Deutschland sollen die jüngsten Fußballerinnen und Fußballer von Mitte 2024 an nur noch in kleinen Teams auf kleinen Spielfeldern mit kleinen Toren spielen, was Kopfbälle relativ sinnlos macht. Im Rugby wird vom kommenden Jahr ein High-Tech-Mundschutz getestet: Via Bluetooth übermittelt er Daten, die zeigen, welchen Kräfte der Kopf ausgesetzt ist.

Der ehemalige Footballer Erich Grau ist skeptisch, dass CTE mit solchen Regeländerungen unter Kontrolle zu bekommen ist: "Wenn mit der Einführung des Zigarettenfilters der Lungenkrebs abgeschafft worden wäre, hätte ich größere Hoffnungen."

DW Kommentarbild Stefan Nestler
Stefan Nestler Redakteur und Reporter