Darum geht es im Streit um die documenta
4. Juni 2022Als "politisch motivierte Drohung" bewerten das Kuratorenkollektiv Ruangrupa und das künstlerische Team der documenta in einer Mitteilung die Ereignisse vom vergangenen Wochenende. Unbekannte waren in einen Ausstellungsort der "documenta fifteen" eingedrungen und hatten Schmierereien an den Wänden hinterlassen. Die Polizei ermittelt wegen Sachbeschädigung. Sie schließt ein politisches Motiv nicht aus. Und auch von Veranstalterseite heißt es, man nehme die Vorkommnisse angesichts der aktuellen Debatte "sehr ernst". Die documenta stellte Strafanzeige und stockte das Sicherheitspersonal auf.
Seit Monaten schon schwelt eine Antisemitismusdebatte rund um die Weltkunstschau. Ob Einbruch und Schmierereien damit zu tun haben, kann nur vermutet werden. Anlass dazu gibt jedoch der Schriftzug "Peralta", möglicherweise eine Anspielung auf den Namen von Isabelle Peralta, die als Leiterin einer rechtsextremen Jugendorganisation in Spanien gelte, wie die documenta mitteilte.Die Zahl "187" verweise möglicherweise auf den Artikel über Mord im kalifornischen Strafgesetzbuch (California Penal Code), der von Teilen der Jugendszene aufgegriffen werde. Überdies soll in dem documenta-Gebäude WH22 auch das palästinensische Künstlerkollektiv "The Question of Funding" ausstellen, wegen dessen Einladung zur "documenta fifteen" die Antisemitismus-Vorwürfe aufgekommen waren. "Wir wünschen uns eine Arbeitsatmosphäre, in der Gewalt gegen Personen, Orte und Kunstwerke nicht toleriert wird", erklärte das Kuratorenteam Ruangrupa. Bekannt ist auch, dass im April an einem anderen Ausstellungsgebäude, dem ruruHaus, dem Treffpunkt des indonesischen Künstlerkollektivs Ruangrupa, antimuslimische Aufkleber gefunden wurden.
Antisemitismus-Debatte geht weiter
Bis zuletzt rissen die Antisemitismus-Vorwürfe gegen das indonesische Kuratorenkollektiv Ruangrupa der 15. documenta nicht ab. Wenige Tage vor der Eröffnung scheint die Lage verfahren.
Noch Anfang des Jahres hatte ein Kasseler Aktionsbündnis in einem Internetblog den Verdacht geäußert, bei der documenta 15 seien auch Organisationen eingebunden, die den kulturellen Boykott Israels unterstützten oder antisemitisch seien. Ruangrupa und die Trägergesellschaft "documenta und Museum Fridericianum GmbH" wiesen die Anschuldigungen zurück. Auch der documenta-Aufsichtsrat und selbst Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Bündnis 90/ Die Grünen) stellten sich hinter die Macher der Weltkunstschau.
Die documenta-Gesellschaft wird von der Stadt Kassel und dem Land Hessen finanziert und durch die Kulturstiftung des Bundes finanziell unterstützt. Die Organisatoren betonten, sie lehnten Eingriffe in die künstlerische Freiheit ab, wollten aber weiter diskutieren. Dazu kündigten sie das Experten-Forum "We need to talk! Art - Freedom -Solidarity" an, bei dem Anfang Mai in drei Veranstaltungen über "das Grundrecht der Kunstfreiheit angesichts von steigendem Rassismus und Antisemitismus und zunehmender Islamophobie" debattiert werden sollte.
Keine Diskussion über Kunstfreiheit
Soweit kam es nicht. Die Documenta cancelte die Online-Diskussionen. Begründung: Man habe "nach Rücksprache mit verschiedenen Teilnehmerinnen und Teilnehmern entschieden, die Veranstaltungsreihe auszusetzen." Man wolle die Ausstellung zunächst beginnen und für sich sprechen lassen, um die Diskussion dann auf dieser Basis "sachgerecht" fortzusetzen. "Zum jetzigen Zeitpunkt scheint das Ziel, das die documenta mit der Gesprächsreihe erreichen wollte, nämlich im Vorfeld der "documenta fifteen" einen multiperspektivischen Dialog jenseits institutioneller Rahmen zu eröffnen, nur schwer umsetzbar."
Zuvor war der Inhalt eines Briefes bekannt geworden, den der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster, an Kulturstaatsministerin Claudia Roth geschrieben hatte. Darin kritisierte Schuster, wie dpa berichtete, den Umgang der documenta mit dem Thema Antisemitismus. Er beklagte unter anderem die Besetzung der Foren und monierte, der Dachverband der jüdischen Gemeinschaft sei nicht eingebunden gewesen.
Auch an der Künstlerauswahl durch das indonesische Kuratorenteam übte Schuster Kritik. Es sei schwierig, "an einen Zufall zu glauben, wenn kein einziger israelischer Künstler vertreten sein wird", sagte der Zentralratspräsident der Zeitung "Die Welt". Ihm dränge sich der Eindruck auf, dass der Aufruf des BDS zum Boykott israelischer Kunst und Kultur bereits wirke. BDS steht für die Bewegung "Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen". Die internationale Bewegung will Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren. Der Deutsche Bundestag hatte sich 2019 in einem Beschluss von der BDS-Kampagne distanziert.
"Kein Platz für Antisemitismus" auf der documenta
Trotz der Absage der Experten-Panels will die documenta den Gesprächsfaden nicht abreißen lassen, sondern, wie sie mitteilte, "vor Ort als verändertes Format weiterentwickeln". Was das konkret heißt, ist wenige Tage vor Beginn der Weltkunstschau nicht erkennbar. Sowohl Kulturstaatsministerin Roth als auch Hessens Kulturministerin Angela Dorn (beide Bündnis 90/ Die Grünen) haben angekündigt, weitere Gespräche mit Vertretern von Documenta und Zentralrat führen zu wollen. Beide betonten, Antisemitismus habe keinen Platz auf der documenta.
Die 1955 von dem Kasseler Maler und Gestalter Arnold Bode gegründete documenta gilt heute neben der Biennale in Venedig als wichtigste Ausstellungsplattform für Gegenwartskunst. Sie findet alle fünf Jahre statt. Mit Kritik sahen sich im Vorfeld viele der Ausstellungsmacher konfrontiert. Doch nie zuvor schlugen die Wellen so hoch wie in diesem Jahr. Die "documenta fifteen" beginnt am 18. Juni und dauert bis zum 25. September.