Das Doppelleben des Journalisten Grubbe
31. August 2021Mit 17 zieht Claus Volkmann seine erste Uniform und eine Armbinde mit dem Hakenkreuz an. Wie viele andere Altersgenossen schließt er sich der Hitlerjugend an, mit 19 der NSDAP. Er ist ehrgeizig, studiert Rechtswissenschaften in Tübingen, München und Berlin.
Weit im Osten, in Kolomea (damals Polen, heute Ukraine), wächst die Jüdin Ruta Wermuth auf. Auch sie träumt davon, eine Uniform zu tragen. Sie kann es kaum erwarten, auf ein Gymnasium zu kommen und bewundert die Schülerinnen in ihren Röcken und Blusen mit Kragen. Aber Ruta wird nie ihre Uniform bekommen und die Schule abschließen, die sie besucht. Und sie wird nie wieder Ferien mit ihrem Vater verbringen.
Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 steigt Claus Volkmann die Karriereleiter hinauf. Er wird persönlicher Referent des Staatssekretärs Josef Bühler im besetzten Polen, das jetzt "Generalgouvernement" genannt wird, stellvertretender Kreishauptmann in der Gemeinde Radzyn Podlaski, Kreishauptmann im Städtchen Krasnystaw und dann in der Stadt Kolomea. Dort soll er eine deutsche Verwaltung aufbauen. Mit ihr kommt auch der Terror.
So kreuzen sich in Kolomea die Wege von Claus Volkmann, Ruta Wermuth und mehreren tausend Juden. Der Kreishauptmann erlässt Verbote. Auf langen Listen steht, was Juden nicht tun dürfen. Sie werden aufgefordert, Schmuck, Gold und Pelze abzugeben. Wer sich weigert, den erwartet der Tod.
Verbote und Terror
Hunger macht sich breit. Der jüdische Apotheker Marceli Najder schreibt in seinem Tagebuch, dass es seit langem kein Brot mehr gibt, manchmal nur Tomaten, etwas Mehl, ein paar Kartoffeln.
Kolomea versinkt zunehmend im Terror. Kreishauptmann Volkmann ordnet an, dass Juden Armbinden mit dem Davidstern tragen müssen. Auf Plakaten rät er, Juden zu meiden, weil sie Typhus verbreiten würden. Und dann unterzeichnet er auch ein Dokument, das für die meisten Juden von Kolomea den Anfang vom Ende bedeutet: Die Grenzen des Ghettos werden markiert.
Suppe aus Unkraut
Ruta Wermuth erinnert sich an den Stacheldraht auf dem Zaun. Auch Marceli Najder muss ins Ghetto. In seinem Tagebuch schreibt er, dass sogar das Unkraut von den Rasenflächen verschwinde, weil die Leute daraus Suppe kochten. Mehrmals am Tag fährt ein Pferdewagen durch die Straße, um die Leichen einzusammeln.
Dann beginnen die "Aktionen". Die Deutschen dringen ins Ghetto ein, erschießen die Kranken und Alten. Andere kommen ins Lager. Auch Ruta Wermuth soll in den Zug dorthin. Sie erinnert sich an die Stille, die in der Stadt herrschte, als die Juden durch die Straßen getrieben wurden. Nur das Scharren von Tausenden Schuhen. Die Hoffnung, dass vielleicht ein Wunder geschieht. Sie hat Glück. Es gelingt ihr, aus dem Waggon zu springen.
Keine Juden mehr
Auch Marceli Najder überlebt. Ein Pole versteckt ihn monatelang unter der Erde, in völliger Dunkelheit. Fast alle anderen Juden Kolomeas werden während der Amtszeit von Claus Volkmann getötet. In Szeparowce, einem benachbarten Dorf, werden sie erschossen und in Massengräbern verscharrt. Tausende kommen ins Vernichtungslager Belzec.
Einigen Leuten muss es missfallen haben, dass der Kreishauptmann in der Zeit reich geworden war, wohl durch Bestechungsgelder, die er nicht ablehnte. Mitte 1942 verliert Volkmann seinen Posten. Doch die Judenvernichtung geht weiter. Anfang 1943 wird das Ghetto liquidiert.
Zwangsarbeit und Straßenrazzien
Volkmann ist kurz bei der Wehrmacht, dann wieder als Kreishauptmann in Lowicz, 60 Kilometer von Lodz entfernt. Auch dort erledigt er seine Arbeit sorgfältig und schickt Tausende Polen in die Zwangsarbeit. Wenn er die festgelegten Normen nicht erfüllen kann, ordnet er Straßenrazzien an. Alle arbeitsfähigen Personen werden gefangen und in Arbeitslager gebracht.
Während Volkmann in der Verwaltung Terror sät, muss sich Ruta Wermuth verstecken. Ihre Angehörigen leben nicht mehr. Sie wird noch zur Zwangsarbeit ins Reich verschleppt. Dort erfährt sie vom Kriegsende. Sie will nach Polen, aber nicht nach Kolomea. Es wäre zu schmerzhaft, auf einem riesigen Friedhof zu leben. Auch Marceli Najder kann endlich sein Versteck verlassen. Er schreit laut und rennt in das blendende Licht. In seinem Tagebuch schmiedet er Rachepläne.
Das zweite Leben
Jetzt muss Claus Volkmann fliehen. Bald nach Kriegsende taucht in Westdeutschland ein begabter Journalist auf. Er nennt sich Peter Grubbe, setzt sich für Demokratie und Menschenrechte ein - und gegen Unterdrückung. Grubbe arbeitet für die größten Tages- und Wochenzeitungen, für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ), "Die Welt" oder "Die Zeit". 1963 beginnt seine Karriere beim "Stern", das damals größte Wochenmagazin der Bundesrepublik. Dass zu diesem Zeitpunkt gegen ihn wegen NS-Verbrechen ermittelt wird, fällt niemandem auf.
"Er war Reporter, ständig unterwegs, berichtete über Außenpolitik", sagt Heiko Gebhardt, ehemaliger "Stern"-Reporter und Leiter des Politikressorts. Er erinnert sich, dass Grubbe das Gesicht einer Werbekampagne war. Aus einer Fotografie schaut Grubbe den Leser an. Er habe immer Fernweh gehabt, hieß es im Text darunter. "Vielleicht liegt es daran, dass wir im Dritten Reich, unter Hitler, in Deutschland eingesperrt waren."
Nur ein kleiner Gefreiter
Beim "Stern" steht Grubbe den linken Autoren nahe. Erich Kuby, Sebastian Haffner und Günther Schwarberg setzen sich schonungslos mit der NS-Zeit auseinander, prangern die Verleugnung der Vergangenheit an. "Gott sei Dank, dass ich nur ein kleiner Gefreiter war damals", sagt Grubbe. Doch immer, wenn der "Stern" ein neues Nazi-Verbrechen aufdeckt, fragt er in der Redaktion nach: "Wie habt ihr das rausgekriegt?"
Grubbe ist sehr beliebt, freundlich und charmant, erinnern sich ehemalige Kollegen. Er verlässt den "Stern" Mitte der 1980er Jahre, macht Dokumentarfilme, Radiosendungen, schreibt Reportagen und Bücher, die meisten über die "Dritte Welt". Er kennt sich aus, bereist über 80 Länder, schreibt über Hungertod und Krankheiten.
"Viel Gutes bewirkt"
Grubbe belässt es nicht bei Appellen. "Er war aktiv, sammelte immer Geld, organisierte Wohltätigkeitsveranstaltungen. Eine davon war für Waisenkinder in Biafra", erinnert sich Ex-Kollege Gebhardt. Grubbe ist auch im Vorstand der Menschenrechtsorganisation "Gesellschaft für bedrohte Völker".
In Lütjensee bei Hamburg, wo Grubbe wohnte, ist er auch dafür bekannt. "Er hat viel Gutes bewirkt, er startete beispielsweise eine Aktion für Blinde in Indien und Bangladesch", sagt Johann von Eicken, Mitglied des örtlichen Lions Club, den Grubbe gegründet hat. Der Journalist dreht Filme, schreibt Berichte, organisiert Spendenaktionen. Er trägt zur Finanzierung von Operationen für Hunderttausende an Grauem Star Erkrankter bei.
Acht Jahre Recherche
Seine Nachbarn erinnern sich an ihn als einen offenen, wortgewandten, engagierten und vielleicht etwas eingebildeten Journalisten. Grubbe redet gerne, nur über seine Vergangenheit spricht er nie, erinnert sich Sigrid Wille, einst eine gute Bekannte des Journalisten. Die Nachbarn und Kollegen hätten sich nur an die Hilfsaktionen erinnert und Grubbe wäre ein Verteidiger der Schwachen geblieben - wenn nicht Philipp Maußhardt gewesen wäre.
Maußhardt hat von einem Kollegen aus der DDR von Grubbe/Volkmanns Vergangenheit erfahren. Acht Jahre lang arbeitet der Reporter der Berliner Tageszeitung "taz" an dem Thema, sichtet Akten, sucht Zeugen und zögert immer wieder mit der Enthüllung. "Das hätte ich nicht getan, wenn Grubbe mir gesagt hätte, er sei ein aufrechter Demokrat, weil er früher selbst Nazi war. Und weil er selbst am Völkermord beteiligt gewesen sei, wolle er ihn nun anprangern und bekämpfen", sagt Maußhardt.
Die Entlarvung
Doch das hört Maußhardt nicht, als er nach Lütjensee fährt. Stattdessen erklärt Grubbe, dass die Namensänderung das Ergebnis seiner literarischen Karriere ist. "Ich habe nie verheimlicht, dass ich Volkmann heiße", sagt Grubbe und hat damit teilweise recht. Im Telefonbuch und in manchen seiner Bücher steht Klaus Volkmann. Doch den ersten Buchstaben seines Vornamens hatte er bereits da in "K" geändert.
Die von der Zentralen Stelle zur Aufklärung der NS-Verbrechen in Ludwigsburg gesammelten Akten überzeugen Maußhardt, dass Volkmann eine entscheidende Rolle bei der Vernichtung der Juden gespielt hat. Peter Grubbe wird entlarvt.
"Feigling und Lügner"
"Alle haben darüber gesprochen", erzählt Peter Grubbes Tochter. Sie möchte anonym bleiben. Als wir anrufen, ist sie überrascht, erzählt aber lange, als hätte sie seit Jahren auf diesen Anruf gewartet. "Ich habe drei Aktenordner mit Dokumenten, Zeitungsausschnitten und Notizen darüber, was man über ihn gesagt hat." Sie kennt jedes Buch, das Informationen über ihren Vater enthält. "Ein Feigling, der ohne Ende gelogen hat", sagt sie. Was ihr Vater erzählt, prüft sie bei Familienangehörigen, Historikern und in Yad Vashem. Sie fährt nach Polen und in die Ukraine, kommt in die Nähe von Kolomea. Und bricht den Kontakt zum Vater ab.
Auch Freunde können es nicht ertragen. "Wir konnten nicht mit jemandem befreundet sein, der eine solche Vergangenheit hat und keine Buße tut", erklärt Sigrid Wille. Wenn Grubbe selbst auf seine Vergangenheit angesprochen wird, wechselt er das Thema oder wird wütend. Es sei seine Privatsache, sagt er.
Eine antifaschistische Zelle greift an. "Es stank nach Buttersäure, die Fenster waren kaputt und in der Bibliothek alles schwarz bemalt. Die Hauswände auch", erinnert sich Nachbar Hartmut Lewandowski. Die Täter hinterlassen eine Nachricht: "Keine Ruhe den NS-Mördern!"
"Eine ganz normale deutsche Geschichte"
Volkmann/Grubbe bestreitet die Vorwürfe und behauptet sogar, Juden gerettet zu haben. Doch die Ermittlungen, die ab 1963 gegen ihn laufen, bestätigen dies nicht. In ihnen wird er verdächtigt, an der Ermordung von Zehntausenden Juden beteiligt gewesen zu sein.
Als Kreishauptmann war er demnach "der wichtigste Mann der Zivilverwaltung, der sämtliche gegen die Juden gerichteten Zwangsmaßnahmen - Kontributionen, Ghettoeinrichtung, Registrierungen usw. - befahl und damit maßgeblich die Aktionen der Sipo (Sicherheitspolizei - Anm. d. Red.) unterstützte", heißt es in den Akten. Volkmann soll selbst zwei Juden erschossen haben, 30 weitere sollen auf sein Betreiben von der Gestapo verhaftet und erschossen worden sein.
Bei den Vernehmungen kann sich Volkmann/Grubbe an wenig erinnern, gibt aber zu, vom Mord an Juden gewusst zu haben. Nach sechs Jahren wird das Verfahren 1969 eingestellt. Der Versuch, Mitte der 1990er Jahre neue Ermittlungen einzuleiten, scheitert.
Peter Grubbe fühlt sich rehabilitiert. Er wird sagen, sein Leben sei "eine ganz normale deutsche Geschichte". Am Ende des Lebens fühlt er sich einsam. "Niemand will mit mir reden", klagt er. Dabei ist er es, der nicht reden will. Zumindest nicht über Claus Volkmann.
Dieser Text ist die gekürzte Übersetzung einer Reportage aus der Reihe "Schuld ohne Sühne" von 2019 (dw.com/zbrodniabezkary), einem Projekt von DW Polnisch und der polnischen Internet-Portale "Interia" und "Wirtualna Polska".