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Politik

Das dunkle Kapitel Colonia Dignidad

Marc Erath
25. April 2016

Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier trifft am Dienstag im Auswärtigen Amt Opfer der Sekte. Erstmals will er sich zur Rolle seines Ressorts äußern. Opfer fordern eine Entschädigung.

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Eingang der Kolonie Colonia Dignidad (Foto: picture-alliance/dpa/M. Hernandez)
Eingang der Kolonie Colonia Dignidad in den 80er JahrenBild: picture-alliance/dpa/M. Hernandez

Wut empfindet Gudrun Müller nicht, wenn sie zurückdenkt, auch nicht Hass. Trauer ist es auch nicht. "Eher Mitleid", sagt sie, "und zwar den Opfern, aber auch den Tätern gegenüber. Weil die bis heute nicht zugeben, was damals geschehen ist." Gudrun Müller ist eine der wenigen, die offen aussprechen, was sie erlebt haben. Heute ist sie 74 Jahre alt, sie war noch ein Teenager, als sie in die Fänge von Paul Schäfer geriet, dem späteren Gründer der Colonia Dignidad. Ihr erster Kontakt auf christlichen Jugendfreizeiten war durchaus positiv, in Gruppen wurde gemeinsam musiziert und gespielt. Dass Schäfer sich nur verstellte, war ihr da noch nicht klar. Heute sagt sie: "Schäfer war völlig skrupellos, er war eigentlich kein Mensch."

Vor sechs Jahren ist Paul Schäfer gestorben, die meiste Zeit seines Lebens konnte er seine krankhaften Neigungen unbehelligt ausleben, seine Vorliebe für kleine Jungs etwa und seinen Hang zu Sadismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitet er für verschiedene evangelische Bildungseinrichtungen, wird aber immer wieder diskret entlassen, als Missbrauchsvorwürfe lautwerden. Mitte der 50er Jahre gründet er nahe Bonn ein Erziehungsheim für Jugendliche, laut Satzung zu "mildtätigen Zwecken", tatsächlich jedoch ist es für Schäfer eine erste Versuchsanordnung, ein Terrorregime zu errichten: Die Heimkinder werden brutal gezüchtigt und heimlich vergewaltigt, gleichzeitig predigt Schäfer Enthaltsamkeit und Gottesfurcht.

Paul Schäfer, Glaubensfanatiker und Sadist

Paul Schäfer (Foto: dpa)
Colonia-Dignidad-Gründer Paul Schäfer 2005 (Archivbild)Bild: picture-alliance/dpa

Auch Gudrun Müller hilft mit, das Heim aufzubauen, längst ist sie dem charismatischen Verführer auf den Leim gegangen. Dabei macht Schäfer aus seiner Abneigung gegenüber Frauen keinen Hehl. "Mädchen waren nichts wert. Wir wurden dauernd angeschrien, kaum ein nettes Wort. Aber Schäfer konnte sich auch einschmeicheln, aber das tat er eigentlich nur bei Jungs." In der Gemeinschaftsdusche und in seinem Zimmer missbraucht der Sektenführer die Jugendlichen. Nur wenige von ihnen schaffen es, die Scham zu überwinden.

Als die Polizei 1961 beginnt, wegen Kindesmissbrauch zu ermitteln, verkauft Paul Schäfer das Haus - ausgerechnet an die Bundeswehr. Der Erlös ist das Startkapital für die Sekte in Chile.

Rund 150 Heimkinder und Angehörige fliehen in einer Nacht- und Nebelaktion mit Schäfer nach Chile, viele nach der jahrelangen Indoktrination freiwillig, einige werden entführt. Dank der 900.000 D-Mark Steuergelder errichten die Deutschen auf dem Land, rund fünf Stunden Autofahrt südlich der Hauptstadt Santiago, die Colonia Dignidad, die Kolonie der Würde. Doch schnell ist klar, dass den Bewohnern keine Würde zugestanden wird. Die Arbeit in der landwirtschaftlichen Produktion ist hart, von frühmorgens bis spät in die Nacht, auch an Sonn- und Feiertagen, Lohn gibt es keinen.

Schäfer predigt eine extreme Auslegung der Bibel, inspiriert von US-Baptisten: Alle persönlichen Bindungen in der Sekte sind verboten, sogar Kinder werden von ihren Eltern getrennt, Liebe und Sex sind tabu. Stattdessen Gottesdienste und Musizieren, das macht Eindruck auf die wenigen Besucher. Tatsächlich hat die Kolonie anfangs einen guten Ruf, vor allem wegen der kostenlosen medizinischen Versorgung für die arme Bevölkerung in der Umgebung. Auch deutsche Politiker, vor allem von der bayerischen CSU, äußern sich nach Besuchen wohlwollend.

Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika ist überzeugt, dass die damaligen deutschen Politiker und auch die Bundesregierung zumindest zeitweise bewusst weggeschaut haben: "Wenn man wissen wollte, was da vor sich ging, dann gab es genügend Hinweise. Aber die Colonia hat nun einmal sehr erfolgreich Lobby-Arbeit betrieben - in Chile und Deutschland. Bei vielen deutschen Politikern herrschte lange Zeit offenbar Konsens, das Thema klein zu halten."

Film Colonia Dignidad Daniel Brühl (Foto: Majestic/Ricardo Vaz Palma)
Aus dem Film "COLONIA DIGNIDAD - ES GIBT KEIN ZURÜCK" mit Daniel Brühl, er soll im AA gezeigt werdenBild: Majestic/Ricardo Vaz Palma

Folter im Dienst Pinochets

Dabei ist die Kolonie in Wahrheit alles andere als eine Mustersiedlung von ausgewanderten Deutschen. Wer aus der Reihe tanzt, wird drakonisch bestraft: mit Elektroschocks an Kopf oder Genitalien, mit teils monatelangem Stubenarrest, mit öffentlicher Demütigung, Sprechverbot und Prügelorgien. Wer sich den Regeln fügt und den Wünschen des Führers Schäfer folgt, vor allem den sexuellen Wünschen, genießt Privilegien. Zuckerbrot und Peitsche - das Einmaleins einer diktatorischen Herrschaft. "Man darf nicht glauben, dass Schäfer allein dafür verantwortlich war", sagt Jan Stehle. "Es gab eine ganze Führungscrew, die da mitgemacht hat. Die Colonia war eine kriminelle Sekte."

Eine kriminelle Sekte, die sich von der Außenwelt abschottet, mit Stacheldraht, Überwachungskameras und bewaffneten Wärtern, kaum etwas dringt nach außen. Und bald findet Schäfer einen mächtigen Verbündeten: General Augusto Pinochet. 1973 putscht er sich an die Regierung, auch dank der Kolonie, die bei Waffenlieferungen hilft, später werden in der Colonia Dignidad in unterirdischen Kellern jahrelang Regimegegner gefoltert. Pinochet zeigt sich erkenntlich, hält die Hand über die Deutschen-Siedlung.

Trotz der strengen Bewachung gelingt einigen wenigen Mitgliedern die Flucht. Doch ihre Schilderungen des Terrorregimes haben kaum Konsequenzen, auch nach dem Sturz der Pinochet-Diktatur bleibt die Sekte lange Zeit weitgehend unbehelligt. Erst 1996 beginnt die chilenische Justiz gegen Paul Schäfer zu ermitteln, er taucht daraufhin unter. Neun Jahre später wird er in Argentinien aufgespürt und festgenommen, ein milde lächelnder Greis im Rollstuhl. Er wird zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt, bald darauf stirbt er.

Auch andere Führungsmitglieder der Kolonie fliehen vor der chilenischen Justiz ins Ausland, manche nach Deutschland. So wie Hartmut Hopp, der frühere Leiter des Krankenhauses und eine Art Außenminister der Colonia Dignidad. Heute lebt Hopp in Krefeld. Wie andere frühere Mitglieder der Kolonie soll er dort die "Freie Volksmission" besuchen.

Sabine Riede von der nordrhein-westfälischen Beratungsstelle “Sekten-Info“ weist daraufhin, dass die Glaubensgemeinschaft in Krefeld zwar nichts mit der Colonia Dignidad zu tun hat. Dennoch ist es eine extrem christlich fundamentalistische Glaubensgemeinschaft, die in ihrer Lehre durchaus Parallelen (eine gewisse Nähe) zur Lehre der Colonia Dignidad aufweist, aus diesem Grund fühlen sich auch einige ehemalige Mitglieder der Colonia Dignidad dort wohl.

Chile Plakat Oktoberfest 2015 Villa Baviera (Foto: villabaviera.cl)
Heute nennt sich die Kolonie "Villa Baviera"Bild: villabaviera.cl

Opfer hoffen auf klärende Worte

Am Dienstag will sich Außenminister Steinmeier mit ehemaligen Mitgliedern der Kolonie treffen. Bei der Veranstaltung im Auswärtigen Amt soll auch der Kinofilm "Colonia Dignidad" von Florian Gallenberger gezeigt werden, der die Diskussion über die deutsche Siedlung in Chile neu entfacht hat.

Für manche Opfer ist diese Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit nicht leicht zu bewältigen. Petra Isabel Schlagenhauf vertritt einige Opfer vor Gericht, die bei der Staatsanwaltschaft Krefeld Strafanzeige gegen Hartmut Hopp erstattet haben. Sie sieht dem Treffen mit Spannung entgegen. "Ich würde mir wünschen, dass das Auswärtige Amt uns Einsicht in seine Akten gewährt. Und dass es so etwas wie eine Gedenkstätte finanziert, derzeit erinnert in der früheren Kolonie nichts an das Leiden der Opfer von Paul Schäfer." Stattdessen nennt sich die Kolonie inzwischen Villa Baviera (Bayerisches Dorf) und versucht, mit einer bizarren Oktoberfest-Folklore Touristen anzulocken.

Gudrun Müller erhofft sich von dem Treffen im Auswärtigen Amt vor allem ein Eingeständnis: "Die Bundesregierung soll endlich zugeben, dass in der Vergangenheit oft weggeschaut wurde. Und sie soll dafür sorgen, dass wir Opfer eine Entschädigung bekommen."