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Das Europa der Analphabeten

Martin Durm17. Februar 2002

Es ist mehr als nur eine Bildungslücke im europäischen Haus. Es ist ein klaffendes Loch, das immer größer zu werden droht. Fast 20 Prozent der Bevölkerung in der Europäischen Union sind Analphabeten.

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wortlos & sprachlosBild: AP

Analphabetismus bedeutet weder ausreichend lesen noch schreiben zu können. Analphabeten gehören also im Zeitalter der Globalisierung zu den Ausgestoßenen, zu denen, die keine Chance haben in einer wettbewerbsorientierten Gesellschaft.

Dass dieser Misstand überhaupt mal publik wurde, ist den Abgeordneten im Europäischen Parlament zu verdanken. Die sind in einer Studie über Analphabetismus zu der beunruhigenden Erkenntnis gekommen, dass Millionen Europäer nur mangelhaft lesen und schreiben können: In Portugal fast 50 Prozent, in Italien über 30 Prozent, in Deutschland immerhin fast 14 Prozent. Am besten schneiden die skandinavischen Länder ab: Finnen, Schweden, Dänen sind die Schriftgelehrten in der EU.

Wie definiert man Analphabetismus?

Der Bericht des Europäischen Parlamentes deckt sich mit der sogenannten Pisa-Studie zum internationalen Bildungsniveau, bei der sich vor allem die Deutschen über ihr mieses Abschneiden entsetzten. Allerdings ist es gar nicht so einfach, Analphabetismus europaweit zu definieren. Da gibt es einerseits diejenigen, die überhaupt nichts anfangen können mit dem gelesenen oder geschriebenen Wort. Andere können zumindest ihren Namen und ein paar Formeln so zu Papier bringen, dass sie ihre eigentliche Schwäche vor dem Arbeitgeber verbergen.

Leidensdruck und Scham

Doch das ändert nichts an der eigentlichen Sprachlosigkeit und an der Scham, in der solche Menschen oft leben. "Der Sprache nicht mächtig sein, verursacht einen ernstzunehmenden Leidensdruck", heißt es in der Studie der Europäischen Union. Neben dem klassischen sprechen die Autoren auch von einem wiederkehrenden Analphabetismus. Damit sind besonders ältere Menschen gemeint, die das Lesen und Schreiben mit den Jahren verlernten. In einer immer komplexer werdenden Welt haben sie buchstäblich die Orientierung verloren.

Analphabetismus wirkt oft wie Krankheitskeim: Wer daran leidet, driftet immer mehr ab in die Isolation, Menschen am Arbeitsplatz ziehen sich zurück, verlieren ihr Selbstwertgefühl oft genug auch am Ende den Job.

EU-Ost-Erweiterung vergrößert das Problem

Mit der bevorstehenden Ost-Erweiterung der Europäischen Union vergrößert sich das Problem: Fast jeder Dritte in den Beitrittsländern ist Analphabet - in Polen 43, in Slowenien 42, in Ungarn 34 Prozent. Aufgeschreckt von diesen Zahlen und Perspektiven fordern die Abgeordneten im Europäischen Parlament nun eine Kampagne fürs Schreiben und Lesen: Ein "Jahr des Buches", wollen sie haben, mehr Straßenbibliotheken und europaweite Alphabatisierungsprojekte.

Computer-Analphabeten

Der technische Fortschritt hat die Menschen offenbar nicht viel klüger gemacht. Beunruhigend wirkt vielmehr ein neuer Begriff, den die Abgeordneten in die Bildungskrise einführen: Computer-Analphabeten, also Menschen, die ratlos vor dem Monitor sitzen und an sich und der neuesten Software verzweifeln. Dazu kann übrigens auch der belesene Bildungsbürger gehören, der Konzernchef, oder auch der Verfasser eines verstörenden Berichtes über Analphabetismus.