Europas Politiker gegen Russland bei Olympia
9. Februar 2023"Es ist schmerzhaft, aber meine Meinung ist ganz klar - ich stehe auf der Seite der Ukraine, es ist nicht an der Zeit, russischen Sportlern die Hand zu geben, das ist nicht ethisch", sagt Gunta Vaičule, Vorsitzende der Athletenkommission des Lettischen Olympischen Komitees (LOK), der DW. Die 27 Jahre alte Leichtathletin bereitet sich gerade auf die Olympischen Spiele in Paris vor. Und die Diskussion um die von IOC-Chef Thomas Bach jüngst ins Spiel gebrachte Zulassung russischer und belarussischer Sportler bei dem größten Sportevent der Welt lässt Vaičule geradezu das Blut in den Adern gefrieren.
In Folge des Ukraine-Krieges sind Russland und Belarus von internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen. Bis auf wenige Ausnahmen, etwa im Tennis, galt dies auch für Starts als neutrale Sportler. Die Ukraine drohte mit einem Olympia-Boykott, will aber noch davon abwenden, wenn die Teilnahme russischer und belarussischer Teilnehmer an den Spielen in der französischen Hauptstadt 2024 verhindert werden kann.
Lettland: Russland muss isoliert werden
Der Sprinterin Vaičule, die bereits bei den Spielen in Rio de Janeiro 2016 für ihr Land an den Start gegangen war, geht es aber nicht nur um ihre eigene Haltung. Vielmehr sieht sie im Vorhaben Bachs eine viel weitergehendere politische Dimension zum Nachteil ihres Landes, das unmittelbar an Russland und Belarus grenzt, aber auch zum Nachteil der gesamten baltischen Region. "Nach dem 24. Februar [2022; Anmerk d. Red.] fühlen wir Letten uns nicht mehr sicher, wir erinnern uns daran, was uns unter der Sowjetunion widerfahren ist. Und ich muss alles in meiner Macht stehende tun, damit so etwas nicht mehr passiert. Ich kann die Kriegsmaschinerie nicht aufhalten, aber ich muss sie irgendwie beeinflussen", sagt Vaičule.
In dieser Auffassung wird sie auch aus höchsten lettischen Regierungskreisen unterstützt. So sei das Vorhaben "russischen und weißrussischen Athleten die Teilnahme an den nächsten Olympischen Spielen zu gestatten, unmoralisch und falsch", betont Edgars Rinkēvičs, Minister für auswärtige Angelegenheiten der Republik Lettland. Sollte Russland seinen Krieg gegen die Ukraine fortsetzen, müsse es isoliert werden. "Wie alle Tyranneien nutzt Russland den Sport für politische Zwecke. Das IOC sollte sich nicht an russischen Propagandabemühungen mitschuldig machen", so Rinkēvičs.
In einem ausführlichen Statement - unterschrieben von NOC-Präsident Zorzs Tikmers - ließ auch das lettische Olympische Komitee keine Zweifel aufkommen: "Der Standpunkt des lettischen NOC war, ist und bleibt unverändert und grundsätzlich - solange in der Ukraine ein Krieg herrscht, ist die Teilnahme russischer und belarussischer Athleten an den Olympischen Spielen, egal unter welcher Flagge, nicht akzeptabel."
Ebendiese Auffassung vertritt auch Dänemarks Sportminister Jakob Engel-Schmidt. Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas drohte gar ebenfalls mit dem Startverzicht ihres Landes bei den Spielen 2024. "Die Teilnahme russischer und belarussischer Sportler ist einfach falsch. Ein Boykott ist also ein nächster Schritt."
Das IOC rügt Boykott-Drohungen
Die Boykott-Drohungen stünden den Grundlagen der Olympischen Bewegung und den Prinzipien, für die sie stehen, entgegen, teilte das IOC derweil mit. "Ein Boykott ist ein Verstoß gegen die Olympische Charta, die alle NOKs verpflichtet, an den Spielen der Olympiade teilzunehmen, indem sie Athleten entsenden", hieß es. Den Sportlern aus Russland und Belarus könne der Weg zu den Spielen in Paris offen stehen, wenn auch nur unter neutraler Flagge. Dazu sei aber noch keine Entscheidung gefallen.
Die neutralen Athleten müssten allerdings nachweisen, dass sie "keinerlei Identifizierung mit ihrem Land und NOKs" hegten, erklärte das IOC. Wie die Athleten ihre Neutralität nachweisen sollen, sei noch offen, Kriterien dafür würden aber erarbeitet. Das IOC berief sich zudem darauf, dass sich eine "große Mehrheit der Teilnehmer" an Beratungen mit Verbänden und Athletenvertretern für einen solchen Schritt ausgesprochen haben.
"Wenn wir neutrale Athleten identifizieren könnten - das könnte eine Lösung sein. Wenn Sie mir einen russischen Athleten zeigen, der seit Beginn des Krieges kein Geld oder keine Unterstützung von der russischen Regierung erhalten und ihre Verbrechen verurteilt hat - dann könnten wir in Erwägung ziehen, mit ihnen zu konkurrieren", sagt Lettlands Athletensprecherin Vaičule. "Die Wahrheit ist aber, dass Russland und Weißrussland ihre Athleten benutzen, um ihre Propagandamaschine aufzubauen, die den Krieg in der Ukraine anheizt. Sie sind die Waffen ihrer Regierungen."
Großer politischer Widerstand
Ebenso wie die Letten sind die Sportverbände in Nordeuropa einheitlich gegen eine mögliche Rückkehr von Sportlern aus Russland und Belarus. "Die Situation mit dem Krieg in der Ukraine hat sich nicht geändert", schrieben die Nationalen Olympischen Komitees, die Paralympischen Komitees und die Sportverbände in den nordischen Ländern in einem gemeinsamen Brief, der am vergangenen Dienstag unter anderem an das IOC geschickt wurde. Unterzeichnet ist das Schreiben von den Verbandsspitzen aus Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Schweden sowie aus Åland, Grönland und von den Färöer-Inseln.
Und auch die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo hat sich in der aktuellen Situation gegen eine Teilnahme von russischen Athleten in der französischen Hauptstadt ausgesprochen. Sie wünsche sich keine Sportler aus Russland, "so lange es Krieg gibt" in der Ukraine, sagte sie in der Radiosendung "8h30" von franceinfo.
Der politische Widerstand ist demnach groß. Und auch Polen, das unmittelbare Grenzen zu Belarus und der Ukraine hat, kann sich nicht vorstellen, dass es in Paris zu einem Aufeinandertreffen der jeweiligen Athleten kommt. "Wir wollen, dass die Olympischen Spiele ohne Russen und Weißrussen stattfinden, aber nicht ohne Polen, Ukrainer oder Letten", sagte Kamil Bortniczuk, polnischer Minister für Sport und Tourismus mit Blick auf einen möglichen Boykott der Olympischen Spiele in Paris dem Radiosender RMF FM. "Die russische Mannschaft war nie neutral und wird es auch nie sein. Wenn das IOC glaubt, dass es dieses Mal anders sein wird, dann ist es naiv."
Russische Propagandamaschinerie
Für die Russen sei der Sport Teil der Propagandamaschinerie. "Darauf weisen wir in unseren informellen Gesprächen hin", sagte Bortniczuk, der sich offenbar auch noch andere, rigorose Möglichkeiten vorstellen kann. "Ich denke, das Ultimatum ist die härteste Karte, die wir haben. Also werden wir sie ziehen, wenn es keine andere Möglichkeit gibt. Ich denke, wir haben noch so viel Zeit, dass wir dem IOC eine Chance zur Selbstreflexion geben sollen."
Am Freitag soll ein Treffen von 40 europäischen Sportministern in London stattfinden, wo dezidiert über das IOC-Ansinnen gesprochen werden soll. "Ich denke, wir werden in der Erklärung, die wir nach dem Treffen (am Freitag) abgeben werden, sehr stark betonen, dass eine Teilnahme ein Sieg für die Russen wäre", sagte Polens Sportminister Bortniczuk. Und das soll in jedem Fall verhindert werden.