"Das ist totales Staatsversagen"
6. Oktober 2015Es geht ein Raunen durch die Menge. Dann folgen Schreie und ein Handgemenge. Binnen Sekunden strömt der Pulk von bis zu 600 Menschen auseinander. Die Stimmung auf dem weiten, staubigen Platz in einem Berliner Hinterhof ist gereizt. Wortfetzen verschiedenster Sprachen fliegen durcheinander. Von Polizei ist weit und breit nichts zu sehen. TV-Kameras sind dagegen da und können filmen, wie ein aufgebrachter Flüchtling einen anderen krankenhausreif schlägt. Wenige Minuten später wird der Notarzt den Verletzten ins Krankenhaus fahren. Erst dann rücken 30 Polizisten an.
"Da reicht ein Funke, um einen Streit zu entzünden"
"Leider ist das inzwischen trauriger Alltag", ruft Helfer Michael Ruscheinsky einigen erschrockenen Journalisten zu. Ruscheinsky arbeitet als freiwilliger Helfer für den Verein "Moabit hilft". Jetzt muss er vor der zentralen Registrierungsstelle für Flüchtlinge beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) in Berlin dafür sorgen, dass es Platz gibt für Sanitäter. Er unterstützt damit die 54 Security-Mitarbeiter, die es kaum schaffen, die wartenden Flüchtlinge vom Sprung über die Absperrgitter abzuhalten. "Schon um kurz nach sechs Uhr morgens gab es bereits fünf Verletzte, weil die Leute Angst haben, nicht dran zu kommen, weil sie Angst haben, ihre Nummer für die Registrierung nicht zu bekommen", erzählt Ruscheinsky. Besonders vorne, direkt an den Absperrgittern, lägen die Nerven bei vielen blank.
Und in der Tat: Security-Mitarbeiter brüllen dort herum, einige männliche Jugendliche aus Syrien, Somalia und Afghanistan schreien zurück. Von hinten wird nachgedrängelt, Schrei und Gegenschrei schaukeln sich auf. Ein friedliches Miteinander sieht anders aus, findet auch Helfer Ruscheinsky. Dabei sei die Stimmung hier vor einigen Tagen gekippt. Es reiche ein Funke, dann könne sich ein handfester Streit entzünden. "Die Leute sind frustriert, desillusioniert und sie sind emotional verletzt, weil sie schon seit Wochen durch die Gegend geschoben werden". Das kleinste Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, bringe das Fass jetzt zum Überlaufen.
Absperrgitter sollen den Prozess der Registrierung kanalisieren helfen. Unterschiedliche Schlangen sollte es so geben, für unterschiedliche Vorgänge. Eigentlich. Stattdessen stehen rund 600 Flüchtlinge im dichten Pulk, eng verwoben ineinander gekauert. Mitten drin, 150 freiwillige Sprachvermittler, die in 30 Sprachen versuchen, die Situation zu befrieden. Darauf, dass es mit der Registrierung kaum vorangeht, haben sie aber keinen Einfluss. Rund 100 Menschen schaffen die Sachbearbeiter in den Gebäuden am Tag. Nicht viel, sagen viele von ihnen selbst. Jeden Tag tauchten derzeit bis zu 500 neue Flüchtlinge auf. 1800 Menschen seien so tagsüber auf dem Gelände. Offizielle Zahlen gibt es aber nicht. Resignation macht sich breit, auch bei einer Helferin, die anonym bleiben möchte: "Vor wenigen Wochen waren wir noch guten Mutes, aber jetzt glauben hier viele, dass das nicht mehr zu schaffen ist".
"Eine Flucht mit der Familie war nicht möglich"
Enayatuila Sediqi wünscht sich, es hier in "Germany" zu schaffen. Der 26-jährige Afghane lächelt fröhlich, trotz der nerv-tötenden Warterei. Seine Miene trübt sich erst ein, als er über seine "große Reise" spricht. 40 Tage war er bis Berlin-Moabit unterwegs. Er war den Taliban in seiner Heimatstadt Lugar ein Dorn im Auge, weil er als studierter Agrarökonom mit der westlich-gestützten Regierung kollaborierte. Vier Jahre Arbeitsverbot kostete ihn das, bevor er Richtung Westen ausbrach. Seine Familie ließ er zurück, hofft allerdings, dass er diese bald nachholen darf. Mit der Familie gemeinsam zu fliehen, das sei nicht möglich gewesen, sagt er. "Ich bin fünf Tage durch die Berge im Iran gelaufen - ohne Wasser und ohne Essen". Vor vier Tagen kam er jetzt hier an, ist einer, der immer noch auf den Beginn der Registrierung wartet. Weil er als Englisch-Lehrer gearbeitet hat, kommt er gut durch, sagt er. Selbstbewusst diktiert Enayatuila Sediqi seine Telefonnummer ins Mikrofon. So könne Angela Merkel ihn anrufen, lächelt er, wenn die Deutschen noch mehr Dolmetscher bräuchten.
Bislang wird hier am LaGeSo vor allem auf Freiwillige gesetzt - in verschiedensten Funktionen. So arbeiten am Eingang des weitläufigen Geländes am MediPoint ehrenamtliche Ärzte, um eine medizinische Grundversorgung sicherzustellen. Viele Flüchtlingspaten mischen sich auf den Platz unter die Flüchtlinge, helfen beim Umgang mit der deutschen Bürokratie. Und Ihsan Wahbi sorgt als Freiwillige dafür, dass auch jene registriert werden, die dafür zu schwach sind.
Die im Libanon geborene Mittvierzigerin, die seit 32 Jahren in Deutschland lebt, wartet geduldig in der über 30 Meter langen Schlange. Ihre Arme umschlingen drei ockerfarbene Akten fest. Als Freiwillige vertritt sie einen Anwalt, der Flüchtlingen Rechtsbeistand gibt. Heute reiht Ihsan Wahbi sich für eine alleinerziehende Mutter aus dem Jemen ein. Die Mutter von vier Kleinkindern und einem Säugling kam übers Mittelmeer. "Deswegen bin ich hier", sagt Ihsan Wahbi bestimmt. Ob sie heute Glück haben wird und ihr Anliegen vortragen kann, das weiß Ihsan Wahbi noch nicht. Sie ist skeptisch, denn an ihrer Schlange stehen rund 300 Flüchtlinge. "Im Saal sind dafür etwa drei bis vier Mitarbeiter. Ich verrate ihnen kein Geheimnis, wenn ich sage, das ist zu wenig".
Nimmt Berlin die Krise ernst?
Gerade in den kommenden Tagen dürfte sich die Situation noch einmal verschärfen, sagt Helfer Michael Ruscheinsky. Denn mit der regnerischen Herbstsaison wird der Druck im LaGeSo steigen, meint er. Nicht zuletzt, weil die Helferzahl zuletzt abnehme, ebenso wie die Spendenbereitschaft der Bürger. "Nur eins geht hoch, nämlich die Zahl der Flüchtlinge". Der Helfer fordert vom Berliner Senat deshalb, nach dem Vorbild Münchens den Katastrophenfall auszulösen. Der Vorteil: THW und Katastrophenschutz könnten dann staatlich finanziert in vollem Umfang eine professionelle Hilfestruktur aufbauen. "Das ist eine Notsituation, die langsam auch genau so gehandhabt werden muss", fordert Helfer Ruscheinsky.
Die zuständige Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales sieht das anders. Auf eine Anfrage der Deutschen Welle antwortet die Behörde am Abend: "Die Unterbringung der Flüchtlinge ist kein Katastrophenfall und deshalb wird dieser auch nicht ausgerufen." Die Pressesprecherin betont, dass die Situation auch ohne entsprechende Notfallpläne gemeistert werden könne. Für Michael Ruscheinsky klingt das zynisch, insbesondere, weil schon morgen die nächste Schlägerei auf dem Hof des LaGeSo auf ihn wartet, da ist er sich sicher. Sein Fazit: "Das ist totales Staatsversagen".