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Politik

Das NSU-Opfer, das erst Täter sein sollte

11. Juli 2019

Vor einem Jahr endete der NSU-Prozess mit der lebenslangen Haftstrafe für die Hauptangeklagte Beate Zschäpe. Die Opfer der Mord- und Anschlagsserie sind für ihr Leben gezeichnet. Ein Besuch in der Keupstraße in Köln.

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Köln  Keupstraße 29 NSU-Nagelbombe
Abdulla Özkan (Mitte) bei einer Protestkundgebung in der Keupstraße in KölnBild: privat

Und plötzlich ist alles dunkel. Gerade eben noch hat sich Abdulla Özkan im Kölner Stadtteil Mülheim die Haare schneiden lassen. Der Deutsch-Türke hat es eilig, will mit dem Auto nach München auf ein türkisches Popkonzert. Özkan macht die Tür zur Straße auf, dann explodiert vor dem Friseursalon in der Keupstraße 29 in Köln eine ferngezündete Nagelbombe.

Verwüstung nach Bombenanschlag Keupstraße Köln 2004
Betroffene wie Abdulla Özkan vermuten sofort ein rechtsextremstisches Motiv hinter dem Anschlag, die Behörden tun dies abBild: picture-alliance/dpa

"Auf einmal war da eine Rauchwolke, ein Feuer, eine Explosion. Und mein Hals, der blutete, durch den Nagel," erinnert sich Özcan an den 9. Juni 2004, "ich habe durch den Rauch keine Luft mehr bekommen. Und es war schwarz, als ob jemand das Licht ausgeknipst hätte. Und die Schreie, überall Schreie." 26 Menschen werden verletzt, nur durch ein Wunder niemand getötet. Für Özkan, der vier Tage später 30 Jahre alt wird, ist es wie ein zweiter Geburtstag.

Die Reise zum NSU-Prozess wird für Özkan zur Obsession

Abdulla Özkan hat diese Geschichte, seine Geschichte, schon oft erzählt. Auch in München beim Prozess gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU). Nur zehn Minuten sind für ihn als Zeugen angesetzt, am Ende spricht Özkan eine Dreiviertelstunde. Darüber, was der Anschlag der NSU mit Opfern wie ihm gemacht hat. Der Deutsch-Türke sucht dabei immer wieder den Augenkontakt mit Beate Zschäpe. "Ich verstehe bis heute nicht, wie man darauf kommen kann, Menschen mit Vorsatz zu verletzen", schüttelt Özkan den Kopf.

Deutschland NSU Prozess
Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe beim NSU-Prozess in MünchenBild: Reuters/M. Rehle

Fünf lange Jahre geht das Gerichtsverfahren, Abdulla Özkan setzt sich oft in sein Auto und rast die 600 Kilometer runter nach München. Ab und zu nimmt er sogar unbezahlten Urlaub. Und sitzt dann manchmal nur zwei Armlängen von der Frau entfernt, die sein Leben zerstören wollte. Über Zschäpe will Özkan nicht mehr reden, aber noch heute ist er wütend über ihre Anwälte, "die sich verhalten haben, als ob sie auf dem roten Teppich stünden, während da Menschen im Gerichtssaal saßen, die ihre Angehörigen verloren haben."

Den NSU-Prozess dokumentiert und archiviert Abdulla Özkan fast wie ein Büroangestellter. In seinem Arbeitszimmer stapeln sich zehn Aktenordner dazu, jeden Tag des Verfahrens heftet er fein säuberlich ab. Seine Art, mit dem Attentat fertig zu werden, neben der psychologischen Hilfe, die Özkan seit 15 Jahren in Anspruch nimmt. "Es ging mir siebeneinhalb Jahre schlecht", erklärt Özkan. "Nach dem Anschlag war ich fast ein Jahr krank und auch finanziell waren es sehr schwere Zeiten."

Ozkan ist in der Öffentlichkeit zunächst Täter und nicht Opfer

Die Geschichte von Abdulla Özkan ist tatsächlich eine Geschichte in zwei Abschnitten. Beide dauern ziemlich genau siebeneinhalb Jahre. Ende 2011, als der Nationalsozialistische Untergrund auffliegt, wird Özkan von einem Tag auf den anderen "vom abgestempelten Täter zum armen Opfer", wie er es beschreibt. Siebeneinhalb Jahre lang, von 2004 bis 2011, wird aber über Drogenmissbrauch spekuliert, über Schutzgelderpressung, über organisierte Kriminalität. Und Özkan, der mit seinem bulligen Aussehen alle Klischees des Türstehers perfekt erfüllt, ist derjenige, der irgendetwas mit dem Anschlag zu tun haben muss.

Köln  Keupstraße 29 NSU-Nagelbombe am 9.Juni 2004 gezündet
"Und Ende 2011 kommen einige Menschen und wollen an deiner Seite stehen. Und ich frage sie: 'Wo wart Ihr vorher'"?Bild: DW/Oliver Pieper

Otto Schily gibt nur einen Tag nach dem Anschlag die Richtung vor. Der damalige SPD-Innenminister schließt einen terroristischen Hintergrund zwar nicht aus, der Anschlag deute aber auf ein kriminelles Milieu hin. Die Presse springt auf den Zug auf. Siebeneinhalb Jahre lang ist für Sicherheitsbehörden und Medien klar: Das Attentat auf der Keupstraße wurde nicht von Rechtsextremisten begangen. "Die Medien haben mich zum Täter gemacht und dies den Menschen in den Kopf gesetzt," denkt Özkan zurück. "Und Du merkst, dass sich die Menschen ein Urteil über Dich bilden, Dir aus dem Weg gehen und nicht mehr mit Dir reden."

Als der NSU auffliegt, ist Özkan plötzlich Gast im Schloss Bellevue

Am 4. November 2011 begehen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in einem Wohnmobil in Eisenach Selbstmord – die beiden Rechtsextremisten, welche die Nagelbombe in der Keupstraße platziert haben. Die Neonazi-Gruppe NSU aus Thüringen fliegt auf. Und für Abdulla Özkan beginnt der zweite Teil seiner Geschichte, in der er nun offiziell als Opfer gilt. Einladungen flattern in Özkans Haus, von Bundespräsident Christian Wulff ebenso wie von Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Köln  Keupstraße 29 NSU-Nagelbombe
"Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken", verspricht Angela MerkelBild: privat

Die deutsche Regierung entschuldigt sich, Barbara John kümmert sich als Ombudsfrau um die Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds, auf eine Reaktion der Medien wartet der Deutsch-Türke aber bis heute: "Niemand hat nach den siebeneinhalb Jahren gesagt, Entschuldigung, wir haben Euch zu Unrecht beschuldigt."

Der Prozess in München sei für ihn der Schauplatz, "an dem Täter, Opfer und Opfer, die zu Tätern gemacht wurden, zusammensaßen." Özkan will aber jetzt nach vorne schauen. Vielleicht beginnt ja nun der dritte Teil seiner Geschichte, die siebeneinhalb Jahre, in denen der Vater von drei Kindern endgültig Abstand vom Attentat in der Keupstraße gewinnt. "Im Hinterkopf habe ich zwar, dass es immer wieder passieren kann. Aber Du musst es hinter Dir lassen. Sonst haben die Leute, die das getan haben, genau das erreicht, was sie wollten."

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur