Das zwiegespaltene Europa
19. Januar 2018Der irische Ministerpräsident Leo Varadkar ruft in einer Grundsatzrede zur Zukunft Europas vor dem Europaparlament zum Schulterschluss der EU-Staaten auf. Global betrachtet sei die EU eine Union von kleinen Ländern. "Nur zusammen sind wir stark."
In London billigt nur Stunden später eine Mehrheit des Unterhauses das Brexit-Gesetz der konservativen britischen Regierung.
In Berlin macht währenddessen der neue österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz seinen Antrittsbesuch bei Kanzlerin Angela Merkel. Der erst 31 Jahre alte Kurz führt eine Regierung, an der auch die rechtspopulistische FPÖ beteiligt ist. Mehr Europa lehnt Kurz ab, vor allem dann, wenn das mehr Flüchtlinge bedeutet.
Am Freitag schließlich ist Merkel selbst Gast, nämlich beim französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Paris. Der gibt sich als großer Erneuerer Europas.
Vier Ereignisse dieser Woche, die etwas über den aktuellen Zustand Europas aussagen, vor allem darüber, wie zwiegespalten Europa derzeit ist: Auf der einen Seite diejenigen wie Macron oder Varadkar, die auf eine noch stärkere europäische Zusammenarbeit setzen, auf der anderen Leute wie Kurz oder May, die wieder mehr das Nationale betonen oder sogar die EU ganz verlassen wollen.
Eher ein Kaleidoskop
Kann man die EU einteilen in Befürworter und Gegner von "mehr Europa"? Auf den ersten Blick scheinen sich einige der größten Skeptiker im Osten unter den neuen EU-Staaten befinden, während die alten, westlichen EU-Staaten eher zur Idee einer immer engeren Integration stehen - mit der großen Ausnahme Großbritanniens.
Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen sieht zwar mit Blick nach Ungarn, Polen und mit Einschränkung Tschechien eine Ost-West-Spaltung teilweise bestätigt, nennt aber als Gegenbeispiele Bulgarien und Rumänien: "Dort sind sehr proeuropäische Regierungen am Werk." Andererseits würde er auch "bei den Dänen und Schweden nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass sie glühende Proeuropäer sind".
Daniel Gros, Direktor der Brüsseler Denkfabrik Centre for European Policy Studies, hält selbst eine grobe Einteilung in Ost und West für falsch: "Der Süden hätte gerne mehr EU mit einem Euro-Finanzminister, einer Bankenunion und Eurobonds. Der Osten hätte gerne mehr EU mit mehr Strukturfonds und mit weniger Beschränkungen der Mobilität von Arbeitern, einige - Balten, aber auch Ungarn - hätten gerne eine stärkere EU-Rolle in Sicherheitsfragen gegen Russland. Bei der Migrationspolitik hätte Deutschland gerne mehr Solidarität, aber auch Italien und Griechenland." Gros' Fazit: "Es gibt keine Spaltung, eher, wie üblich, ein Kaleidoskop."
Leinen sieht vor allem zwei Dinge, die die Europäer auseinandertreiben: "Wir haben nach wie vor die zwei großen Themen, die nicht bewältigt sind, die Wirtschafts- und Finanzkrise, die eine Nord-Süd-Spaltung in Europa verursacht hat, und dann die Migrationswelle, wo wir eine Ost-West-Spaltung haben. Europa ist also je nach Thema mehrfach in sich gespalten."
Was ist noch die gemeinsame Grundlage?
Lange wurde das Ziel einer "immer engeren Union" kaum infrage gestellt. Doch spätestens als Franzosen und Niederländer 2005 in Volksabstimmungen eine europäische Verfassung ablehnten, schien plötzlich eine Grenze der Integration auf. Immerhin waren es zwei der Gründungsmitglieder, die so abgestimmt hatten. Die Euro-Rettungspolitik und schließlich die Migrationskrise haben dann eine zunächst schleichende Entwicklung stark beschleunigt. Heute sind die EU-Skeptiker stark im Europaparlament vertreten, es gibt mehrere euroskeptische Regierungen, und in praktisch allen nationalen Parlamenten haben Parteien Zulauf, die die Macht der EU begrenzen, zurückfahren oder sogar die EU insgesamt abschaffen wollen.
Doch was taugt überhaupt noch als gemeinsame Grundlage? Jo Leinen meint, die EU solle vor allem die Bürger im Blick haben, denn "die Bürger haben ähnliche Interessen: ein sicheres, ein gutes Leben zu führen, also innere und äußere Sicherheit, natürlich einen Arbeitsplatz zu haben, der ein auskömmliches Leben erlaubt, und eine gute Umwelt zu haben." Um noch mehr Rechtspopulisten im Europaparlament nach der Wahl 2019 zu verhindern, werde es "deswegen dieses Jahr so wichtig sein, den Menschen zu sagen, was man mit Europa erreichen kann." Der konkrete, praktische Nutzen für die Bürger wie die Abschaffung der Roaming-Gebühren, auch Umwelt- und Verbraucherschutz gelte es "noch mehr zu zeigen".
Vorerst keine Vereinigte Staaten von Europa
Zwei jüngere Versuche der Politik, wieder das ganz große europapolitische Rad zu drehen, gingen dagegen kläglich schief. Kurz vor der Bundestagswahl regte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker eine rasche Ausweitung der Euro- und der Schengenzone auf möglichst alle EU-Mitglieder an. Die Reaktion war prompt und heftig. In Deutschland sagte zum Beispiel FDP-Chef Christian Lindner, dessen Partei lange als Teil einer neuen Koalitionsregierung gehandelt wurde. "Herr Juncker verkennt die Lage." In den sozialen Medien forderten Kommentatoren sarkastisch baldige Rettungspakete für Rumänien und Bulgarien.
Das zweite Beispiel kam von Martin Schulz, früher Präsident des Europaparlaments und heute SPD-Chef. Schulz gab Ende Dezember das Ziel aus, bis 2025 die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen; wer dabei nicht mitmachen wolle, solle die EU verlassen. CSU-Chef Alexander Dobrindt bezeichnete darauf Schulz als "Europaradikalen" und sagte: "Diese Art von mehr Europa heißt schlichtweg weniger Deutschland." Schulz‘ Vorstoß spielte in den Sondierungsgesprächen mit der Union dann offenbar keine Rolle mehr.
Die "Gegenpole" Deutschland und Frankreich
Für die nächste deutsche Regierung durchaus eine Rolle spielt dagegen das, was Emmanuel Macron ausgerufen hat: Die "Neugründung eines souveränen, vereinten und demokratischen Europas" hat er gefordert, einen europäischen Finanzminister und einen eigenen Haushalt für die Eurozone. Wie Angela Merkel, die alte und wohl auch neue Kanzlerin, darauf reagieren wird, steht noch nicht fest. Überzeugt ist sie aber in jedem Fall vom Sinn einer engen französisch-deutschen Abstimmung.
Stefan Seidendorf, stellvertretender Leiter des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, hält diese Zusammenarbeit aber nicht nur wichtig für beide Länder, sondern auch für die ganze EU und ihren Zusammenhalt, gerade weil beide Länder so unterschiedlich seien: "Die Kooperation mit Frankreich ist deshalb besonders erfolgreich, weil Frankreich traditionell den Gegenpol zu Deutschland darstellt." Wenn sich beide einigten, habe dies in Europa oft den Charakter eines "Stellvertreterkompromisses", der für alle anderen mehr oder weniger akzeptabel sei. "Und das ist im Grunde der Mehrwert dieser Sonderbeziehung bis heute."