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Politik

Dauerkrise in Wirtschaftswunderland

Jan Philipp Wilhelm
28. Dezember 2017

Seit mehr als zwei Jahren wird Äthiopien immer wieder von Unruhen erschüttert. Es geht um Macht, Teilhabe und regionale Autonomie. Die Lage droht zu eskalieren.

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Äthiopien Proteste | Brennende Reifen in Sabata
Bild: DW/M. Yonas Bula

"Mindestens 61 Tote nach Tagen der Gewalt." So oder ähnlich liefen in der Woche vor Weihnachten die Meldungen aus Äthiopien über die Bildschirme. Seit zwei Jahren kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit Todesopfern. Vor allem in den Regionen Oromia und Amhara gehören Proteste, Unruhen und Gewalt für viele Menschen mittlerweile zum Alltag.

Statt auf Dialog mit den Demonstranten setzte die Regierung von Beginn an auf die harte Hand: Beobachter berichten von willkürlicher Polizeigewalt, kritische Internetseiten und Blogs werden von der Regierung zensiert, manchmal gar das gesamte Internet tagelang gesperrt. Unabhängige Radiosender werden regelmäßig gestört - auch das amharische Programm der Deutschen Welle ist davon betroffen.

Was ist los in Äthiopien, dem Land mit rund 100 Millionen Einwohnern, das sonst gerne als Ostafrikas neue Wirtschaftsmacht gepriesen wird? Die Spurensuche führt zurück bis ins Jahr 1991. Damals stürzte die Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker (EPRDF), eine Koalition von Rebellengruppen unter der Führung der nordäthiopischen Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF), das kommunistische Derg-Regime und beendete damit einen 17 Jahre andauernden Bürgerkrieg.

Ethnischer Föderalismus - Ursünde des modernen Äthiopiens?

Um innere Konflikte künftig zu vermeiden, installierten die siegreichen Rebellen zunächst eine Einheitsregierung, der Parteien aus allen wichtigen Bevölkerungsgruppen angehörten. Zusätzlich sollte ein föderales Staatensystem, basierend auf neun ethnisch definierten Regionen, dem historischen Zentralismus in Äthiopien ein Ende bereiten und den verschiedenen Bevölkerungsgruppen größere Autonomie und Selbstbestimmung einräumen.

Äthiopien Protesten der Oromo in Bishoftu
Demonstranten in Bishoftu zeigen mit ihren Armen die Geste des Oromo-ProtestsBild: REUTERS/File Photo/T. Negeri

Doch bald wurde klar, dass die Regierungskoalition unter der Führung des TPLF-Chefs Meles Zenawi wenig Interesse daran hatte, ihre neu gewonnene Macht zu teilen. Die zunehmend autoritär agierende Zentralregierung blieb die maßgebliche Regierungsinstanz, das Recht auf regionale Selbstbestimmung nicht viel mehr als hehres Versprechen.

Der Journalist Martin Plaut sieht in dieser Konstellation das Grundproblem des modernen äthiopischen Staates: "Die TPLF und Meles Zenawi hatten nie vor, Demokratie und echten Föderalismus zuzulassen", sagt der Äthiopien-Experte. Doch sei die Fokussierung auf ethnische Unterschiede in der Verfassung  nicht ohne Konsequenzen geblieben: "Wenn die Ethnie zur Grundlage des Staates wird, führt das unweigerlich zu ethnischen Spannungen", so Plaut im DW-Gespräch.

Wer profitiert vom Wirtschaftswunder?

Einigen Beobachtern gelten die tödlichen Zusammenstöße zwischen Oromo und äthiopischen Somali in den vergangenen Wochen deshalb als Vorboten eines ethnisch motivierten Bürgerkriegs. Die ethnischen Spannungen, so scheint es, entladen sich derzeit mit zunehmender Intensität. Doch die Ursachen sind komplex. 

Vertriebene Oromo suchen Schutz in einem industriellen Lagerhaus
Vertriebene Oromo suchen Schutz in einem industriellen LagerhausBild: DW/J. Jeffrey

So hat vor allem ein Thema in den letzten Jahren die unruhige Situation im Land immer wieder befeuert: Die Nebenwirkungen des rasanten Wirtschaftswachstums – seit 2000 hat sich das Bruttoinlandsprodukt fast verzehnfacht – und die Frage, wer vom gestiegenen Wohlstand eigentlich profitieren darf.

So gilt etwa die gewaltsame Enteignung vieler Oromo in der Folge der flächenmäßigen Ausbreitung der Boom-Hauptstadt Addis Abeba als einer der Auslöser für die andauernden Unruhen. Und während eine kleine Schicht regierungsnaher Oligarchen immer mehr Reichtum anhäuft, sehen die meisten Äthiopier bislang kaum etwas vom angeblichen Wirtschaftswunder. Nach wie vor gehört Äthiopien zu den ärmsten Ländern der Welt, fast sechs Millionen Menschen sind sogar auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. 

Zwar führte das Wirtschaftswachstum auch zum Entstehen einer kleinen aber wachsenden Mittelklasse, doch die trägt kaum zur Entschärfung der Situation bei. Im Gegenteil: Wirtschaftlicher Erfolg und bessere Bildung nähren den Wunsch nach politischer Partizipation, die den Aufsteigern im autoritären System bislang verwehrt bleibt.

Äthiopien Industriepark Hawassa
Der Industriepark Hawassa, 275 Kilometer südlich von Addis Abeba, ist ein Zeichen des wirtschaftlichen AufschwungsBild: Imago/Xinhua/M. Tewelde

Die Folgen dieser Umbrüche sind Konflikte auf allen Ebenen: Die Zivilgesellschaft begehrt auf gegen den Autoritarismus nationaler, regionaler und lokaler Machthaber, die Regionen wollen mehr Unabhängigkeit von Addis Abeba, und innerhalb der Macht- und Schaltzentralen kämpfen Reformer gegen die Verteidiger des Status quo. Zunehmend mischen auch das Militär und regionale Polizeitruppen bei politischen Entscheidungen mit.

Echter Föderalismus als Lösung?

Droht nun ein Zerfall des Staates? Martin Plaut hält derlei Spekulationen für verfrüht, schließlich gebe es einen Ausweg: "Es gibt eine Lösung, und zwar einen echten Föderalismus zu erlauben." Dafür müsse allerdings die TPLF bereit sein, ihre Vormachtstellung abzugeben und ein echtes Mehrparteiensystem zulassen.

Auch der äthiopische Oppositionspolitiker Beyene Petros glaubt nicht, dass Äthiopien auseinanderbrechen könnte: "Ich denke, es gibt einen großen öffentlichen Willen, zusammenzubleiben",  sagt der Vize-Chef der Medrek-Koalition im DW-Gespräch. Nötig sei aber eine Reform des politischen Systems: "Das EPRDF-Regime ist schlicht nicht kompatibel mit der kulturellen und politischen Situation im Land." Was Äthiopien nun brauche, sei eine nationale Konferenz unter Einbindung aller Parteien und der Zivilgesellschaft. So könnten die schlechten Nachrichten aus Äthiopien mittelfristig ein Ende finden.