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Wann ist der Zusammenprall einer zu viel?

Stefan Nestler | Janek Speight
27. Dezember 2021

Lange Zeit wurde Demenz als Gefahr im Profifußball verdrängt. Das hat sich inzwischen geändert - zumindest im englischen Fußball, wo das Thema deutlich präsenter ist als im deutschen.

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Robin Gosens trifft im EM-Spiel gegen Frankreich Benjamin Pavard mit dem Knie am Kopf
Robin Gosens (l.) trifft im EM-Spiel gegen Frankreich Benjamin Pavard mit dem Knie am KopfBild: Alexander Hassenstein/AP Photo/picture alliance

Tickt in meinem Kopf eine Zeitbombe? Das fragt sich inzwischen sicher nicht nur Andreas Luthe, Torwart des Fußball-Bundesligisten Union Berlin. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien, "dass ein höheres Risiko für Demenz besteht, wenn du viele Erschütterungen am Kopf hast - egal ob durch Kopfball oder Zusammenprall - lässt mich nicht kalt, weil ich schon mein ganzes Leben lang Fußball spiele", räumte der 34-Jährige im Gespräch mit der DW ein. "Und wer sagt mir, dass ich nicht in 30 oder 40 Jahren Nachteile habe?" Luthe war in diesem Jahr gleich zweimal heftig mit dem Kopf mit Gegenspielern zusammengeprallt. Beim ersten Mal hatte sich der Torwart eine Gehirnerschütterung zugezogen und war vom Platz genommen worden, beim zweiten Mal hatte er nach acht Minuten Unterbrechung weitergespielt.

Vorreiterrolle des englischen Fußballs

Verglichen mit England wird in Deutschland noch immer relativ wenig über ein möglicherweise erhöhtes Demenzrisiko früherer Fußballprofis diskutiert - und das, obwohl es prominente Beispiele für demente Ex-Stars gibt: Torjäger-Legende Gerd Müller, der in diesem Jahr im Alter von 75 Jahren in einem Pflegeheim starb; Horst-Dieter Höttges, auch er ein Weltmeister von 1974, der mit 78 Jahren ein Pflegefall ist; der 2012 verstorbene Helmut Haller, Schütze des ersten Tors im WM-Finale 1966 in Wembley gegen England. 

Schweigeminute für Gerd Müller vor dem Bundesligaspiel Freiburg gegen Dortmund
Schweigeminute in der Bundesliga im vergangenen August für Gerd Müller, den "Bomber der Nation"Bild: Thomas Kienzle/AFP/Getty Images

Fünf Spieler der englischen Weltmeisterelf von damals erkrankten an Demenz, vier von ihnen sind bereits tot. Vielleicht ist dies einer der Gründe für die Vorreiterrolle des Fußball-Mutterlands in Sachen "brain health", dem Schutz des Gehirns von Menschen, die Fußball spielen. Im Dezember haben der englische Fußballverband FA, die obersten beiden Spielklassen Premier League und EFL sowie die Spielergewerkschaft PFA gemeinsam einen Aktionsplan mit drei Schwerpunkten beschlossen: Forschung, Aufklärung, Unterstützung dementer Ex-Profis.

Diagnose per MRT

Unter anderem soll ein Pflege-Fonds gegründet werden, aus dem Zuschüsse für die Behandlung an Demenz erkrankter früherer Fußballer gezahlt werden sollen. "Damit ist der Job noch nicht erledigt, jetzt fängt die harte Arbeit erst richtig an", erklärte die Jeff-Astle-Stiftung. "Macht keinen Fehler, die Demenz-Krise betrifft jeden im Fußball." 

Jeff Astle war einst ein für seine Kopfballstärke bekannter Profi des Traditionsvereins West Bromwich Albion. 2002 starb Astle, hochgradig dement, im Alter von nur 59 Jahren an CTE (Chronische Traumatische Enzephalopathie), auch als Boxer-Syndrom bekannt. Das ergab die Untersuchung des Gehirns nach seinem Tod. Bislang galt die Obduktion als einzige Möglichkeit, CTE nachzuweisen. Das könnte sich bald ändern. Wie im Dezember bekannt wurde, gelang US-Wissenschaftlern der Universität Boston ein Durchbruch dabei, CTE auch bei noch lebenden Patienten mittels Magnetresonanztomographie (MRT) zu diagnostizieren.

Die von den Forschern ermittelten Symptome decken sich auch mit jenen auf MRT-Bildern von Dave Watson. Der 75 Jahre alte frühere englische Nationalspieler, der bei drei Länderspielen die Kapitänsbinde trug, leidet an Demenz. Watsons Familie hat die Krankheit im vergangenen Jahr öffentlich gemacht und kämpft dafür, dass sie als Folge seiner Profikarriere eingestuft wird.

Häufiger schwere Kopfverletzungen bei Fußballerinnen

William Stewart und sein Forscherteam von der Universität Glasgow hatten 2019 die Todesursachen von über 7500 früheren schottischen Fußballprofis ausgewertet. Ergebnis: Das Risiko, an Alzheimer oder anderen Demenzerkrankungen zu sterben, liegt bei Fußballprofis dreieinhalb Mal höher als normal. Die Verbände im englischen Fußball haben angekündigt, Geld in weitere Studien zu stecken, um offene Fragen wie diese klären zu lassen: Wie hoch ist das Risiko, das von Kopfbällen ausgeht? Ist die Gefahr beim Kopfballspiel durch moderne Fußbälle geringer als bei jenen von früher? Welche Risikofaktoren erhöhen das Demenzrisiko? Wie kann man Anzeichen der Krankheit früher erkennen und behandeln? Warum treten schwere Kopfverletzungen bei Fußball spielenden Frauen deutlich häufiger auf als bei Männern?

"Es gibt nicht viele Daten zu Gehirnerschütterungen im Frauensport, was wirklich beschämend ist", sagte Stewart der DW. Die Behandlung von Gehirnerschütterungen im Fußball, so der Neuropathologe, basierten "alle auf Untersuchungen bei Männern". 2020 ging mit Sue Lopez erstmals eine Frauenfußball-Pionierin mit ihrer Demenz-Erkrankung an die Öffentlichkeit. Die heute 76 Jahre alte frühere englische Nationalspielerin führte ihre Erkrankung auf ihr häufiges Kopfballspiel zurück.

Höchstens zehn Kopfbälle pro Woche

Auch in diesem Punkt ist der englische Fußball Reformmotor. Im Februar 2020 erließ die FA - mit den Verbänden Schottlands und Nordirlands - neue Richtlinien, nach denen Kinder bis elf Jahre nicht mehr im Kopfballspiel trainiert werden und bei den Teams der Jugendlichen unter 18 Jahren Kopfball-Übungen eine "niedrige Priorität" haben sollen. Im vergangenen Juli legten FA, Premier League und die Verbände der unteren Ligen auch den Erwachsenen-Teams nahe, die Intensität des Kopfballtrainings zurückzufahren: "Es wird empfohlen, dass in jeder Trainingswoche höchstens zehn Kopfbälle mit höherer Kraft ausgeführt werden." Gemeint sind Kopfbälle nach langen Pässen, Flanken, Eckbällen oder Freistößen.

Außerhalb Englands stagniert die Debatte über weniger Kopfbälle. "Es ist mir ein Rätsel, dass sie das so langsam aufgreifen", sagt Neurowissenschaftler Michael Grey von der Universität Norwich. "Die Mächtigen im Fußball denken, dass Kopfbälle ein integraler Bestandteil des Spiels sind." Der europäische Fußballverband UEFA scheint sich eher auf die Frage zu konzentrieren, wie mit schweren Kopfverletzungen zu verfahren ist, als darauf, sie zu verhindern. So veröffentlichte die UEFA Ende November eine Charta zum Umgang mit Gehirnerschütterungen im Spiel. Von einem Demenzrisiko für Profifußballer ist darin nicht die Rede.

Mehr Bewusstsein schaffen

"Ich würde nicht sagen, dass es fahrlässig ist. Aber es wäre schon bedeutend, wenn klar gemacht würde, dass ein Demenzrisiko besteht", sagte Michael Hornberger, Professor für angewandte Demenzforschung an der Universität Norwich, der DW. "Natürlich will man nicht unnötig Angst machen, und es ist mehr Forschung nötig, um den Zusammenhang zwischen Gehirnerschütterung im Fußball zu verstehen", so Hornberger, "aber der Transparenz wegen wäre diese Information schon sehr wertvoll für Fußballer."

Union-Torwart Andreas Luthe wird nach einem Zusammenprall im Spiel gegen Mönchengladbach vom Platz geführt
Union-Torwart Andreas Luthe (3.v.r.) wird nach einem Zusammenprall im Spiel gegen Mönchengladbach vom Platz geführtBild: Andreas Gora/picture alliance/dpa

Das sieht auch Union-Berlin-Torwart Luthe so: "Es braucht mehr Bewusstsein. Ich glaube, dass viele Spieler gar nicht wissen, wie gefährlich das später sein kann." Für ihn selbst gibt es eine gute und eine weniger gute Nachricht: Weitere Auswertungen der schottischen Forscher um William Stewart ergaben, dass Torleute, statistisch gesehen, nicht häufiger an einer Demenzerkrankung sterben als Nicht-Fußballer. Ein fünfmal höheres Risiko trägt laut Stewart die Abwehr - wegen des häufigen Kopfballspiels der am meisten gefährdete Mannschaftsteil.

Die weniger gute Nachricht für Luthe lautet, dass auch die Dauer der Karriere eine Rolle spielt. Wer länger als 15 Jahre aktiv ist, hat laut Statistik ein fünfmal höheres Risiko, später an einer Erkrankung des Gehirns, inklusive Demenz, zu leiden wie ein Nicht-Fußballer. Seitdem Luthe als damaliger Torwart der Junioren des VfL Bochum ins Männerteam wechselte, sind 15 Jahre vergangen.

DW Kommentarbild Stefan Nestler
Stefan Nestler Redakteur und Reporter