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Politik

Ein ambivalentes Symbol

5. Januar 2017

Anis Amri, der Amokfahrer von Berlin, posierte kurz nach seiner Tat vor einer Überwachungskamera mit ausgestrecktem Zeigefinger, einem Erkennungszeichen des IS. Ursprünglich entstammt die Geste dem klassischen Islam.

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Islamischer Staat Kämpfer zeigt Zeigefinger Geste
Machtgewisser IS-Kämpfer in Syrien: Das Bild stammt aus einem Propagandamagazin des ISBild: picture-alliance/ZUMA/Dabiq

Ganz nah am Ort des Attentats, direkt am Bahnhof Zoo, hinterließ Anis Amri, der Amokfahrer vom Berliner Weihnachtsmarkt, noch einen Gruß. Ganz bewusst, nimmt die Generalbundesanwaltschaft an, stellte sich der Mörder vor eine der in dem Gebäude installierten Videokameras und streckte den rechten Zeigefinger aus - ein Symbol, das in den letzten Jahren die Dschihadisten des sogenannten "Islamischen Staats" (IS) für sich vereinnahmt hatten.

Vereinnahmt, weil der ausgestreckte Zeigefinger im Islam ein seit Langem etabliertes Zeichen ist. Eingesetzt wird es etwa während der Schahada, dem islamischen Glaubensbekenntnis. Erwähnt wird das Symbol schon in den Hadithen, den klassischen Überlieferungen der Handlungen und Äußerungen des muslimischen Religionsstifters Mohammed. So soll dieser während des Gebets den rechten Ellbogen auf den rechten Oberschenkel gestützt und dann den Zeigefinger der rechten Hand in die Höhe gestreckt haben. Seitdem gilt die Geste Muslimen als Ausdruck des Glaubens an den einen, einzigen Gott. Praktizierende Gläubige führen sie fünfmal am Tag aus - nämlich zu den fünf Gebetszeiten, die ihr Glaube ihnen vorschreibt.

Zwischen Demut und Machtanspruch

Viele Menschen im Westen verbinden die Geste mit einer ganz anderen Geschichte: der vom Aufstieg der Terrororganisation "Islamischer Staat". Immer wieder streckten deren Kämpfer vor der Kamera den rechten Zeigefinger nach oben - und ihre Sympathisanten und Unterstützer weltweit taten es ihnen nach. So nun auch Amri, der mit dieser Geste nicht nur im Bahnhof Zoo posierte, sondern zuvor auch auf einem Foto, das er in den sozialen Netzwerken von sich zeigte. Auch der so genannte "Kalif" des IS, Ibrahim Awad Ibrahim al-Badri alias Abu Bakr al Baghdadi, praktizierte die Geste während seiner bislang einzigen auf Video aufgezeichneten Predigt im Sommer 2014.

Irak | video still des mutmaßlichen IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi
Abu Bakr al-Baghdadi, der "Kalif" des sogenannten "Islamischen Staats"Bild: REUTERS

Der ausgestreckte Zeigefinger ist ein doppeldeutiges Symbol: Im islamischen Kontext steht er für die Einheit Gottes, verstanden als oberste Macht, der der Mensch sich in Demut zu unterwerfen habe. Jenseits des klassischen islamischen Kontexts ist der ausgestreckte Finger zugleich aber auch Ausdruck großer Selbstsicherheit. Er markiert die Position dessen, der auf etwas zeigt. Der Finger stellt das Objekt heraus, auf das er verweist, wie auch den Zeigenden selbst. Er ist es, der dem Objekt erst Bedeutung verleiht. Dieser Akzent verleiht der Geste immer auch einen Machtanspruch - universal vielleicht nirgends deutlicher symbolisiert als im mahnend erhobenen Zeigefinger des Lehrers.

Bewusste Ambivalenz

Es ist auch diese Bedeutung, die die Geste bei Dschihadisten so beliebt macht. Sie hat etwas Drohendes, Autoritäres, verkörpert jene Macht, die die IS-Dschihadisten seit 2014, der Ausrufung des Kalifats, so entschlossen beanspruchen und auch rücksichtslos durchsetzen.

Diesen Anspruch, schreibt der Islamismusforscher William McCants in seiner Studie über die Geschichte und Strategie des "IS", formuliere die Terrororganisation bereits in ihrem Namen: "Das arabische Wort für 'Staat' - 'dawla' - kann sowohl einen modernen Nationalstaat bezeichnen wie auch die Erinnerung an mittelalterliche Kalifate wie den Abessynenstaat evozieren, der sich über Mesopotamien, den Persischen Golf und Nordafrika erstreckte. Der Islamische Staat nutzt diese Ambiguität, um seine Anhänger zu ermutigen, ihn (den IS, Anm. d. Red.) als ein Proto-Kalifat zu betrachten."

Theologische und militärische Vorherrschaft

Dieselbe Mehrdeutigkeit nutzt der "IS" auch im Hinblick auf den ausgestreckten Zeigefinger: einerseits ein vertrautes, positiv konnotiertes Symbol, andererseits eine entschlossene Kampfansage. Als "dschihadistisches Äquivalent eines Gang-Abzeichens" bezeichnet die New York Post das Symbol. Der Glaube an den einen und einzigen Gott impliziert gerade bei den Dschihadisten zugleich die Absage an alle anderen Weltbilder - aus ihrer Sicht schließt die eigene, aus ihrer Sicht göttlich legitimierte Wahrheit alle anderen Weltbilder aus.

Syrien Kämpfer des Islamischen Staats
Theologische Hegemonie auf militärischer Grundlage: IS-Kämpfer in Raqqa Bild: picture-alliance/Zuma Press

"Indem die IS-Mitglieder ihren Zeigefinger ausstrecken, senden sie eine leicht verständliche Nachricht hinsichtlich ihrer Ziele: theologische Vorherrschaft und militärische Hegemonie", heißt es in der Zeitschrift Foreign Affairs. Das Konzept gehe auf, urteilt die Zeitschrift: "Wenn potentielle IS-Rekruten in London, New York oder Sydney das Symbol auf Twitter sehen, verstehen sie die Dimension des IS-Anspruchs und der damit einhergehenden Ziele. Weniger radikalisierte Betrachter nehmen unterschwellig wahr, dass es sich um ein Machtsymbol handelt."

Schwierigkeiten der Deutung

Der ambivalente Charakter der Geste - Demut im klassischen Islam, Dominanzgebaren im dschihadistischen Milieu - macht ihre eindeutige Interpretation gelegentlich schwierig. Im Juli 2015 strahlte die ARD eine Dokumentation aus, die einen Jugendlichen und ein Vorstandsmitglied des Moscheevereins DITIB im nordrhein-westfälischen Dinslaken zeigt. Beide strecken den ausgestreckten Zeigefinger in die Luft. Die Empörung über diese Geste war groß. Die Islamische Zeitung fand die Aufregung unangemessen. DITIB - die dem türkischen Religionsministerium unterstehende "Türkisch Islamische Union der Anstalt für Religion" - sei ein Bollwerk gegen extremistische Ideologien. "Wird hier bewusst denunziert?" fragte die Zeitung.

Afghanistan Opferfest Mazar-i Sharif
Friedlicher Kontext: Muslime beim GebetBild: Getty Images/AFP/F. Usyan

Die DITIB-Vertreter in Nordrhein-Westfalen selbst gaben sich defensiv. "Konkret in Dinslaken müssen wir sehen, dass ein Fehlverhalten, das eben in einer unkritischen Verhaltensweise Niederschlag gefunden hat, die Konsequenz haben wird, dass die betroffenen Vorstandsmitglieder zurücktreten und darüber hinaus auch der gesamte Vorstand beabsichtigt zurückzutreten", erklärte Murat Kayman vom DITIB Landesverband NRW.

Der Islamische Staat hat ein Symbol des klassischen Islam gekapert. Noch ist offen, wie die gemäßigten Muslime es zurückerobern wollen.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika