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Balkan und die "IS"

Nemanja Rujević17. Juni 2015

Auf dem Balkan leben Millionen alteingesessene Muslime. Medienberichten zufolge versuchen islamistische Terroristen verstärkt, sie zu beeinflussen. Doch die Meinungen über die reale Gefährdungslage sind gespalten.

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Propagandavideo IS Balkan (Quelle: Propagandavideo Islamic State via Al Hayat/YouTube)
Szene aus einem Video des "Islamischen Staates"Bild: Propagandavideo Islamic State via Al Hayat/YouTube

Die Geschichte des Balkans in den letzten 100 Jahren sei eine einzige Chronologie der Unterdrückung der Muslime. Das behauptet die Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS), deren Propaganda auch auf diese Region zielt. Der einzige Ausweg im Kampf gegen Kommunisten, sogenannte "Kreuzfahrer" oder Juden sei selbstverständlich der Dschihad: In einem aufwendig produzierten Video werden die Muslime aus Bosnien-Herzegowina, Serbien, dem Kosovo, Albanien und Mazedonien dazu aufgerufen, die "ungläubigen" Nachbarn zu töten.

"Legt Sprengstoff unter ihre Autos und Häuser. Gießt Gift in ihr Essen, lasst sie verrecken", ruft ein bärtiger junger Mann in bosnischer Sprache. Den Terroristen im Video wurden sogar Spitznamen zugeteilt, die auf ihre Herkunft deuten: Al-Bosni, Al-Albani, Al-Kosovi.

Überspitzt oder realistisch?

Die Propaganda erfüllte bereits ein erstes Ziel: Alle regionalen Medien berichteten tagelang, dass der IS den Balkan besonders ins Visier genommen habe. Diese Berichterstattung sei für die Extremisten nützlich, kritisiert der bosnische Terrorismus-Experte Vlado Azinović. "IS veröffentlicht allein über Twitter wöchentlich über 200.000 Kurznachrichten. Alle beinhalten solche Drohungen in verschiedenen Sprachen. Von daher ist es schlicht falsch zu glauben, dass der IS auf besondere Weise auf den Balkan zielt", sagt Azinović im DW-Gespräch. Die Theorie, dass ausgerechnet der Balkan ein Einfallstor für die Dschihadisten darstelle, sieht der Terrorismus-Experte als mediales Produkt und Ausdruck von "Hysterie".

Infografik Karte Muslimische Mehrheit Balkan (Foto: DW)
Gebiete auf dem Balkan mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung

Auch die Zeitung "Welt am Sonntag" berichtete, radikale Islamisten würden auf dem Westbalkan vermehrt Netzwerke bilden und "eine Art Vor-Ausbildung für die angehenden Dschihadisten" bieten. Nach eigenen Angaben hat das die Zeitung aus deutschen Sicherheitskreisen erfahren: Die Situation sei so besorgniserregend, dass sie ein Thema des Parlamentarischen Gremiums des Bundestages und sogar des jüngsten G7-Gipfels gewesen sei.

"Die Bedrohung durch den IS sollte man ernstnehmen", meint Filip Ejdus von der Belgrader Fakultät für Politikwissenschaften. Obwohl er nicht glaubt, dass der IS zur Zeit einen Ableger auf dem Balkan gründen könne, befürchtet er, dass die Terroristen bald verstärkt Anschläge in Europa ausführen werden. "Der Balkan wird sich wegen seiner Instabilität als leichte Beute erweisen. Die politischen Eliten müssen verstehen, dass es ohne eine entschlossene Zusammenarbeit mit westlichen Demokratien keine Antwort auf die globale terroristische Bedrohung geben kann", sagt Ejdus im Gespräch mit der DW.

Aus der wirtschaftlichen Misere in den Dschihad

Auch in Bosnien kam es zu tödlichen Angriffen mit einem islamistischen Hintergrund: Im April erschoss ein mutmaßlicher IS-Anhänger einen Polizisten und verletzte zwei weitere Menschen in der Stadt Zvornik. Ob er seine Tat mit der IS-Führung koordiniert hat, ist aber nicht bewiesen.

Obwohl die Meinungen der Experten über das Ausmaß der IS-Bedrohung auf dem Balkan gespalten sind, steht eines fest: In dieser Region rekrutiert der "Islamische Staat" viele neue Anhänger. Nach Medienberichten sollen allein 250 Männer aus dem Kosovo für den IS in den Krieg gezogen sein – ein Rekord in Europa, im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Auch Bosnien-Herzegowina soll bei der Rekrutierung von Dschihadisten ganz oben auf der Liste stehen. "Es handelt sich meistens um junge Männer vom wirtschaftlichen Rand der Gesellschaft, die keine Ausbildung und keine Arbeitserfahrung haben", sagt Azinović, der dieses Phänomen im Auftrag der Atlantischen Initiative untersucht hat.

Doch junge Menschen radikalisierten sich nicht allein wegen der prekären Wirtschaftslage in ihrer Heimat, sondern wegen des angeblichen "globalen Leids ihrer Identitätsgemeinschaft", so Azinović: "Sie reisen in ferne Kriegsgebiete, die sie früher nicht einmal auf der Karte gefunden hätten - in einen Krieg, den sie nicht verstehen. Und alles in dem Glauben, sie würden dabei den Auftrag Gottes erfüllen."

Finanzierung vom Golf

Der Belgrader Experte Ejdus erinnert auch daran, dass in den Jugoslawien-Kriegen aus den 1990er Jahren Konflikte auch entlang religiöser Linien verliefen - zwischen orthodoxen Serben, muslimischen Bosniern und katholischen Kroaten. Damals kämpften auch Mudschahedin aus dem arabischen Raum auf der Seite der bosnischen Muslime. Nach dem Krieg ist ihre radikale Interpretation des Islam in der Region geblieben - und ihre Moscheen werden noch heute finanziell von den Ländern am Persischen Golf unterstützt. "Diese Auslegung der Religion wird als Inspiration für den 'heiligen Krieg' genutzt. Obwohl eine große Mehrheit der Muslime auf dem Balkan diese antizivilisatorischen Ideen ablehnt, finden diese leider ihren Weg zu einer Gruppe von Menschen", sagt Ejdus.

IS-Flagge in Gornja Maoča, Bosnien (Foto: Ruben Neugebauer)
IS-Flagge in dem Dorf Gornja Maoča in Bosnien-HerzegowinaBild: Ruben Neugebauer

Das gilt auch für den Kosovo, bestätigt Ismail Hasani, Religionssoziologe aus Priština, im Gespräch mit der DW. "Es gibt einige Imame, die im Nahen Osten geschult sind und eine nichttraditionelle Auslegung des Islam propagieren. Doch diese radikalen Varianten finden keinen fruchtbaren Boden auf dem Balkan. Ich bin davon überzeugt, dass diese Auslegungen bald der Vergangenheit angehören werden", so Hasani. "Es gibt ein Vorurteil über den Balkan: dass die Menschen es hier kaum erwarten können, ihre Nachbarn zu töten. Doch diese Zeiten sind vorbei": Davon ist Hasani überzeugt.

In der Berichterstattung über die IS-Propaganda wird ein Detail meistens nicht erwähnt: Das an die Muslime auf dem Balkan gerichtete Video wurde noch im vergangenen Jahr gedreht - und viele der Kämpfer aus dem Film sind inzwischen tot.